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Der Untertan by Heinrich Mann

Chapter 1 No.1

Diederich He?ling war ein weiches Kind, das am liebsten tr?umte, sich vor allem fürchtete und viel an den Ohren litt. Ungern verlie? er im Winter die warme Stube, im Sommer den engen Garten, der nach den Lumpen der Papierfabrik roch und über dessen Goldregen- und Fliederb?umen das h?lzerne Fachwerk der alten H?user stand. Wenn Diederich vom M?rchenbuch, dem geliebten M?rchenbuch, aufsah, erschrak er manchmal sehr. Neben ihm auf der Bank hatte ganz deutlich eine Kr?te gesessen, halb so gro? wie er selbst! Oder an der Mauer dort drüben stak bis zum Bauch in der Erde ein Gnom und schielte her!

Fürchterlicher als Gnom und Kr?te war der Vater, und obendrein sollte man ihn lieben. Diederich liebte ihn. Wenn er genascht oder gelogen hatte, drückte er sich so lange schmatzend und scheu wedelnd am Schreibpult umher, bis Herr He?ling etwas merkte und den Stock von der Wand nahm. Jede nicht herausgekommene Untat mischte in Diederichs Ergebenheit und Vertrauen einen Zweifel. Als der Vater einmal mit seinem invaliden Bein die Treppe herunterfiel, klatschte der Sohn wie toll in die H?nde – worauf er weglief.

Kam er nach einer Abstrafung mit gedunsenem Gesicht und unter Geheul an der Werkst?tte vorbei, dann lachten die Arbeiter. Sofort aber streckte Diederich nach ihnen die Zunge aus und stampfte. Er war sich bewu?t: ?Ich habe Prügel bekommen, aber von meinem Papa. Ihr w?ret froh, wenn ihr auch Prügel von ihm bekommen k?nntet. Aber dafür seid ihr viel zu wenig."

[pg 6] Er bewegte sich zwischen ihnen wie ein launenhafter Pascha; drohte ihnen bald, es dem Vater zu melden, da? sie sich Bier holten, und bald lie? er kokett aus sich die Stunde herausschmeicheln, zu der Herr He?ling zurückkehren sollte. Sie waren auf der Hut vor dem Prinzipal: er kannte sie, er hatte selbst gearbeitet. Er war Büttensch?pfer gewesen in den alten Mühlen, wo jeder Bogen mit der Hand geformt ward; hatte dazwischen alle Kriege mitgemacht und nach dem letzten, als jeder Geld fand, eine Papiermaschine kaufen k?nnen. Ein Holl?nder und eine Schneidemaschine vervollst?ndigten die Einrichtung. Er selbst z?hlte die Bogen nach. Die von den Lumpen abgetrennten Kn?pfe durften ihm nicht entgehen. Sein kleiner Sohn lie? sich oft von den Frauen welche zustecken, dafür, da? er die nicht angab, die einige mitnahmen. Eines Tages hatte er so viele beisammen, da? ihm der Gedanke kam, sie beim Kr?mer gegen Bonbons umzutauschen. Es gelang – aber am Abend kniete Diederich, indes er den letzten Malzzucker zerlutscht, sich ins Bett und betete, angstgeschüttelt, zu dem schrecklichen lieben Gott, er m?ge das Verbrechen unentdeckt lassen. Er brachte es dennoch an den Tag. Dem Vater, der immer nur methodisch, Ehrenfestigkeit und Pflicht auf dem verwitterten Unteroffiziersgesicht, den Stock geführt hatte, zuckte diesmal die Hand, und in die eine Bürste seines silberigen Kaiserbartes lief, über die Runzeln hüpfend, eine Tr?ne. ?Mein Sohn hat gestohlen", sagte er au?er Atem, mit dumpfer Stimme, und sah sich das Kind an wie einen verd?chtigen Eindringling. ?Du betrügst und stiehlst. Du brauchst nur noch einen Menschen totzuschlagen."

Frau He?ling wollte Diederich n?tigen, vor dem Vater [pg 7]hinzufallen und ihn um Verzeihung zu bitten, weil der Vater seinetwegen geweint habe! Aber Diederichs Instinkt sagte ihm, da? dies den Vater nur noch mehr erbost haben würde. Mit der gefühlsseligen Art seiner Frau war He?ling durchaus nicht einverstanden. Sie verdarb das Kind fürs Leben. übrigens ertappte er sie geradeso auf Lügen wie den Diedel. Kein Wunder, da sie Romane las! Am Sonnabendabend war nicht immer die Wochenarbeit getan, die ihr aufgegeben war. Sie klatschte, anstatt sich zu rühren, mit dem Dienstm?dchen ... Und He?ling wu?te noch nicht einmal, da? seine Frau auch naschte, gerade wie das Kind. Bei Tisch wagte sie sich nicht satt zu essen und schlich nachtr?glich an den Schrank. H?tte sie sich in die Werkstatt getraut, würde sie auch Kn?pfe gestohlen haben.

Sie betete mit dem Kind ?aus dem Herzen", nicht nach Formeln, und bekam dabei ger?tete Wangenknochen. Sie schlug es auch, aber Hals über Kopf und verzerrt von Rachsucht. Oft war sie dabei im Unrecht. Dann drohte Diederich, sie beim Vater zu verklagen; tat so, als ginge er ins Kontor, und freute sich irgendwo hinter einer Mauer, da? sie nun Angst hatte. Ihre z?rtlichen Stunden nützte er aus; aber er fühlte gar keine Achtung vor seiner Mutter. Ihre ?hnlichkeit mit ihm selbst verbot es ihm. Denn er achtete sich selbst nicht, dafür ging er mit einem zu schlechten Gewissen durch sein Leben, das vor den Augen des Herrn nicht h?tte bestehen k?nnen.

Dennoch hatten die beiden von Gemüt überflie?ende D?mmerstunden. Aus den Festen pre?ten sie gemeinsam vermittels Gesang, Klavierspiel und M?rchenerz?hlen den letzten Tropfen Stimmung heraus. Als Diederich am Christkind zu zweifeln anfing, lie? er sich von der [pg 8]Mutter bewegen, noch ein Weilchen zu glauben, und er fühlte sich dadurch erleichtert, treu und gut. Auch an ein Gespenst, droben auf der Burg, glaubte er hartn?ckig, und der Vater, der hiervon nichts h?ren wollte, schien zu stolz, beinahe strafwürdig. Die Mutter n?hrte ihn mit M?rchen. Sie teilte ihm ihre Angst mit vor den neuen, belebten Stra?en und der Pferdebahn, die hindurchfuhr, und führte ihn über den Wall nach der Burg. Dort genossen sie das wohlige Grausen.

Ecke der Meisestra?e hinwieder mu?te man an einem Polizisten vorüber, der, wen er wollte, ins Gef?ngnis abführen konnte! Diederichs Herz klopfte beweglich; wie gern h?tte er einen weiten Bogen gemacht! Aber dann würde der Polizist sein schlechtes Gewissen erkannt und ihn aufgegriffen haben. Es war vielmehr geboten, zu beweisen, da? man sich rein und ohne Schuld fühlte – und mit zitternder Stimme fragte Diederich den Schutzmann nach der Uhr.

Nach so vielen furchtbaren Gewalten, denen man unterworfen war, nach den M?rchenkr?ten, dem Vater, dem lieben Gott, dem Burggespenst und der Polizei, nach dem Schornsteinfeger, der einen durch den ganzen Schlot schleifen konnte, bis man auch ein schwarzer Mann war, und dem Doktor, der einen im Hals pinseln durfte und schütteln, wenn man schrie – nach allen diesen Gewalten geriet nun Diederich unter eine noch furchtbarere, den Menschen auf einmal ganz verschlingende: die Schule. Diederich betrat sie heulend, und auch die Antworten, die er wu?te, konnte er nicht geben, weil er heulen mu?te. Allm?hlich lernte er den Drang zum Weinen gerade dann auszunutzen, wenn er nicht gelernt hatte – denn alle [pg 9]Angst machte ihn nicht flei?iger oder weniger tr?umerisch – und vermied so, bis die Lehrer sein System durchschaut hatten, manche üblen Folgen. Dem ersten, der es durchschaute, schenkte er seine ganze Achtung; er war pl?tzlich still und sah ihn, über den gekrümmten und vors Gesicht gehaltenen Arm hinweg voll scheuer Hingabe an. Immer blieb er den scharfen Lehrern ergeben und willf?hrig. Den gutmütigen spielte er kleine, schwer nachweisbare Streiche, deren er sich nicht rühmte. Mit viel gr??erer Genugtuung sprach er von einer Verheerung in den Zeugnissen, von einem riesigen Strafgericht. Bei Tisch berichtete er: ?Heute hat Herr Behnke wieder drei durchgehauen." Und wenn gefragt ward, wen?

?Einer war ich."

Denn Diederich war so beschaffen, da? die Zugeh?rigkeit zu seinem unpers?nlichen Ganzen, zu diesem unerbittlichen, menschenverachtenden, maschinellen Organismus, der das Gymnasium war, ihn beglückte, da? die Macht, die kalte Macht, an der er selbst, wenn auch nur leidend, teilhatte, sein Stolz war. Am Geburtstag des Ordinarius bekr?nzte man Katheder und Tafel. Diederich umwand sogar den Rohrstock.

Im Lauf der Jahre berührten zwei über Machthaber hereingebrochene Katastrophen ihn mit heiligem und sü?em Schauder. Ein Hilfslehrer ward vor der Klasse vom Direktor heruntergemacht und entlassen. Ein Oberlehrer ward wahnsinnig. Noch h?here Gewalten, der Direktor und das Irrenhaus, waren hier gr??lich mit denen abgefahren, die bis eben so hohe Gewalt hatten. Von unten, klein aber unversehrt, durfte man die Leichen betrachten und aus ihnen eine die eigene Lage mildernde Lehre ziehen.

[pg 10] Die Macht, die ihn in ihrem R?derwerk hatte, vor seinen jüngeren Schwestern vertrat Diederich sie. Sie mu?ten nach seinem Diktat schreiben und künstlich noch mehr Fehler machen, als ihnen von selbst gelangen, damit er mit roter Tinte wüten und Strafen austeilen konnte. Sie waren grausam. Die Kleinen schrien – und dann war es an Diederich, sich zu demütigen, um nicht verraten zu werden.

Er hatte, den Machthabern nachzuahmen, keinen Menschen n?tig; ihm genügten Tiere, sogar Dinge. Er stand am Rande des Holl?nders und sah die Trommel die Lumpen ausschlagen. ?Den hast du weg! Untersteht euch noch mal! Infame Bande!" murmelte Diederich, und in seinen blassen Augen glomm es. Pl?tzlich duckte er sich; fast fiel er in das Chlorbad. Der Schritt eines Arbeiters hatte ihn aufgest?rt aus seinem l?sterlichen Genu?.

Denn recht geheuer und seiner Sache gewi? fühlte er sich nur, wenn er selbst die Prügel bekam. Kaum je widerstand er dem übel. H?chstens bat er den Kameraden: ?Nicht auf den Rücken, das ist ungesund."

Nicht da? es ihm am Sinn für sein Recht und an Liebe zum eigenen Vorteil fehlte. Aber Diederich hielt dafür, da? Prügel, die er bekam, dem Schlagenden keinen praktischen Gewinn, ihm selbst keinen reellen Verlust zufügten. Ernster als diese blo? idealen Werte nahm er die Schaumrolle, die der Oberkellner vom ?Netziger Hof" ihm schon l?ngst versprochen hatte und mit der er nie herausrückte. Diederich machte unz?hlige Male ernsten Schrittes den Gesch?ftsweg die Meisestra?e hinauf zum Markt, um seinen befrackten Freund zu mahnen. Als der aber eines Tages von seiner Verpflichtung überhaupt nichts mehr wissen wollte, erkl?rte Diederich und stampfte ehrlich ent[pg 11]rüstet auf: ?Jetzt wird mir's doch zu bunt! Wenn Sie nun nicht gleich herausrücken, sag' ich's Ihrem Herrn!" Darauf lachte Schorsch und brachte die Schaumrolle.

Das war ein greifbarer Erfolg. Leider konnte Diederich ihn nur hastig und in Sorge genie?en, denn es war zu fürchten, da? Wolfgang Buck, der drau?en wartete, darüber zukam und den Anteil verlangte, der ihm versprochen war. Indes fand er Zeit, sich sauber den Mund zu wischen, und vor der Tür brach er in heftige Schimpfreden auf Schorsch aus, der ein Schwindler sei und gar keine Schaumrolle habe. Diederichs Gerechtigkeitsgefühl, das sich zu seinen Gunsten noch eben so kr?ftig ge?u?ert hatte, schwieg vor den Ansprüchen des anderen – die man freilich nicht einfach au?er acht lassen durfte, dafür war Wolfgangs Vater eine viel zu achtunggebietende Pers?nlichkeit. Der alte Herr Buck trug keinen steifen Kragen, sondern eine wei?seidene Halsbinde und darüber einen gro?en wei?en Knebelbart. Wie langsam und majest?tisch er seinen oben goldenen Stock aufs Pflaster setzte! Und er hatte einen Zylinder auf, und unter seinem überzieher sahen h?ufig Fracksch??e hervor, mitten am Tage! Denn er ging in Versammlungen, er bekümmerte sich um die ganze Stadt. Von der Badeanstalt, vom Gef?ngnis, von allem, was ?ffentlich war, dachte Diederich: ?Das geh?rt dem Herrn Buck." Er mu?te ungeheuer reich und m?chtig sein. Alle, auch Herr He?ling, entbl??ten vor ihm lange den Kopf. Seinem Sohn mit Gewalt etwas abzunehmen, w?re eine Tat voll unabsehbarer Gefahren gewesen. Um von den gro?en M?chten, die er so sehr verehrte, nicht ganz erdrückt zu werden, mu?te Diederich leise und listig zu Werk gehen.

Einmal nur, in Untertertia, geschah es, da? Diederich [pg 12]jede Rücksicht verga?, sich blindlings bet?tigte und zum siegestrunkenen Unterdrücker ward. Er hatte, wie es üblich und geboten war, den einzigen Juden seiner Klasse geh?nselt, nun aber schritt er zu einer ungew?hnlichen Kundgebung. Aus Kl?tzen, die zum Zeichnen dienten, erbaute er auf dem Katheder ein Kreuz und drückte den Juden davor in die Knie. Er hielt ihn fest, trotz allem Widerstand; er war stark! Was Diederich stark machte, war der Beifall ringsum, die Menge, aus der heraus Arme ihm halfen, die überw?ltigende Mehrheit drinnen und drau?en. Denn durch ihn handelte die Christenheit von Netzig. Wie wohl man sich fühlte bei geteilter Verantwortlichkeit und einem Schuldbewu?tsein, das kollektiv war!

Nach dem Verrauchen des Rausches stellte wohl leichtes Bangen sich ein, aber das erste Lehrergesicht, dem Diederich begegnete, gab ihm allen Mut zurück; es war voll verlegenen Wohlwollens. Andere bewiesen ihm offen ihre Zustimmung. Diederich l?chelte mit demütigem Einverst?ndnis zu ihnen auf. Er bekam es leichter seitdem. Die Klasse konnte die Ehrung dem nicht versagen, der die Gunst des neuen Ordinarius besa?. Unter ihm brachte Diederich es zum Primus und zum geheimen Aufseher. Wenigstens die zweite dieser Ehrenstellen behauptete er auch sp?ter. Er war gut Freund mit allen, lachte, wenn sie ihre Streiche ausplauderten, ein ungetrübtes, aber herzliches Lachen, als ernster junger Mensch, der Nachsicht hat mit dem Leichtsinn – und dann in der Pause, wenn er dem Professor das Klassenbuch vorlegte, berichtete er. Auch hinterbrachte er die Spitznamen der Lehrer und die aufrührerischen Reden, die gegen sie geführt worden waren. In seiner Stimme bebte, nun er [pg 13]sie wiederholte, noch etwas von dem wollüstigen Erschrecken, womit er sie, hinter gesenkten Lidern, angeh?rt hatte. Denn er spürte, ward irgendwie an den Herrschenden gerüttelt, eine gewisse lasterhafte Befriedigung, etwas ganz unter sich Bewegendes, fast wie ein Ha?, der zu seiner S?ttigung rasch und verstohlen ein paar Bissen nahm. Durch die Anzeige der anderen sühnte er die eigene sündhafte Regung.

Andererseits empfand er gegen die Mitschüler, deren Fortkommen seine T?tigkeit in Frage stellte, zumeist keine pers?nliche Abneigung. Er benahm sich als pflichtm??iger Vollstrecker einer harten Notwendigkeit. Nachher konnte er zu dem Getroffenen hintreten und ihn, fast ganz aufrichtig, beklagen. Einst ward mit seiner Hilfe einer gefa?t, der schon l?ngst verd?chtig war, alles abzuschreiben. Diederich überlie? ihm, mit Wissen des Lehrers, eine mathematische Aufgabe, die in der Mitte absichtlich gef?lscht und deren Endergebnis dennoch richtig war. Am Abend nach dem Zusammenbruch des Betrügers sa?en einige Primaner vor dem Tor in einer Gartenwirtschaft, was zum Schlu? der Turnspiele erlaubt war, und sangen. Diederich hatte den Platz neben seinem Opfer gesucht. Einmal, als ausgetrunken war, lie? er die Rechte vom Krug herab auf die des anderen gleiten, sah ihm treu in die Augen und stimmte in Ba?t?nen, die von Gemüt schleppten, ganz allein an:

?Ich hatt' einen Kameraden,

Einen bessern findst du nit ..."

übrigens genügte er bei zunehmender Schulpraxis in allen F?chern, ohne in einem das Ma? des Geforderten zu überschreiten, oder auf der Welt irgend etwas zu wissen, was nicht im Pensum vorkam. Der deutsche Aufsatz war [pg 14]ihm das Fremdeste, und wer sich darin auszeichnete, gab ihm ein ungekl?rtes Mi?trauen ein.

Seit seiner Versetzung nach Prima galt seine Gymnasialkarriere für gesichert, und bei Lehrern und Vater drang der Gedanke durch, er solle studieren. Der alte He?ling, der 66 und 71 durch das Brandenburger Tor eingezogen war, schickte Diederich nach Berlin.

Weil er sich aus der N?he der Friedrichstra?e nicht fortgetraute, mietete er sein Zimmer droben in der Tieckstra?e. Jetzt hatte er nur in gerader Linie hinunterzugehen und konnte die Universit?t nicht verfehlen. Er besuchte sie, da er nichts anderes vorhatte, t?glich zweimal, und in der Zwischenzeit weinte er oft vor Heimweh. Er schrieb einen Brief an Vater und Mutter und dankte ihnen für seine glückliche Kindheit. Ohne Not ging er nur selten aus. Kaum, da? er zu essen wagte; er fürchtete, sein Geld vor dem Ende des Monats auszugeben. Und immerfort mu?te er nach der Tasche fassen, ob es noch da sei.

So verlassen ihm um das Herz war, ging er doch noch immer nicht mit dem Brief des Vaters in die Blücherstra?e zu Herrn G?ppel, dem Zellulosefabrikanten, der aus Netzig war und auch an He?ling lieferte. Am vierten Sonntag besiegte er seine Scheu – und kaum watschelte der gedrungene, ger?tete Mann, den er schon so oft beim Vater im Kontor gesehen hatte, auf ihn zu, da wunderte Diederich sich schon, da? er nicht früher gekommen sei. Herr G?ppel fragte gleich nach ganz Netzig und vor allem nach dem alten Buck. Denn obwohl sein Kinnbart nun auch ergraut war, hatte er doch, wie Diederich, nur, wie es schien, aus anderen Gründen, schon als Knabe den alten Buck verehrt. Das war ein Mann: Hut ab! Einer von [pg 15]denen, die das deutsche Volk hochhalten sollte, h?her als gewisse Leute, die immer alles mit Blut und Eisen kurieren wollten und dafür der Nation riesige Rechnungen schrieben. Der alte Buck war schon achtundvierzig dabei gewesen, er war sogar zum Tode verurteilt worden. ?Ja, da? wir hier als freie M?nner sitzen k?nnen," sagte Herr G?ppel, ?das verdanken wir solchen Leuten wie dem alten Buck." Und er ?ffnete noch eine Flasche Bier. ?Heute sollen wir uns mit Kürassierstiefeln treten lassen ..."

Herr G?ppel bekannte sich als freisinniger Gegner Bismarcks. Diederich best?tigte alles, was G?ppel wollte; er hatte über den Kanzler, die Freiheit, den jungen Kaiser keinerlei Meinung. Da aber ward er peinlich berührt, denn ein junges M?dchen war eingetreten, das ihm auf den ersten Blick durch Sch?nheit und Eleganz gleich furchtbar erschien.

?Meine Tochter Agnes", sagte Herr G?ppel.

Diederich stand da, in seinem faltenreichen Gehrock, als magerer Kadett, und war rosig überzogen. Das junge M?dchen gab ihm die Hand. Sie wollte wohl nett sein, aber was war mit ihr anzufangen? Diederich antwortete ja, als sie fragte, ob Berlin ihm gefalle; und als sie fragte, ob er schon im Theater gewesen sei, antwortete er nein. Er fühlte sich feucht vor Ungemütlichkeit und war fest überzeugt, sein Aufbruch sei das einzige, womit er das junge M?dchen interessieren k?nne. Aber wie war von hier fortzukommen? Zum Glück stellte ein anderer sich ein, ein breiter Mensch, namens Mahlmann, der mit ungeheurer Stimme Mecklenburgisch sprach, stud. ing. zu sein schien und bei G?ppels Zimmerherr sein sollte. Er erinnerte Fr?ulein Agnes an einen Spaziergang, den [pg 16]sie verabredet h?tten. Diederich ward aufgefordert, mitzukommen. Entsetzt schützte er einen Bekannten vor, der drau?en auf ihn warte, und machte sich sofort davon. ?Gott sei Dank," dachte er, w?hrend es ihm einen Stich gab, ?sie hat schon einen."

Herr G?ppel ?ffnete ihm im Dunkeln die Flurtür und fragte, ob sein Freund auch Berlin kenne. Diederich log, der Freund sei Berliner. ?Denn wenn Sie es beide nicht kennen, kommen Sie noch in den falschen Omnibus. Sie haben sich gewi? schon mal verirrt in Berlin." Und als Diederich es zugab, zeigte Herr G?ppel sich befriedigt. ?Das ist nicht wie in Netzig. Hier laufen Sie gleich halbe Tage. Was glauben Sie wohl, wenn Sie von Ihrer Tieckstra?e bis hierher zum Halleschen Tor gehen, dann sind Sie ja schon dreimal durch ganz Netzig gestiegen ... Na, n?chsten Sonntag kommen Sie nun aber zum Mittagessen!"

Diederich versprach es. Als es so weit war, h?tte er lieber abgesagt; nur aus Furcht vor seinem Vater ging er hin. Diesmal galt es sogar ein Alleinsein mit dem Fr?ulein zu bestehen. Diederich tat gesch?ftig und als sei er nicht aufgelegt, sich mit ihr zu befassen. Sie wollte wieder vom Theater anfangen, aber er schnitt mit rauher Stimme ab: er habe für so etwas keine Zeit. Ach ja, ihr Papa habe ihr gesagt, Herr He?ling studiere Chemie?

?Ja. Das ist überhaupt die einzige Wissenschaft, die Berechtigung hat", behauptete Diederich, ohne zu wissen, wie er dazu kam.

Fr?ulein G?ppel lie? ihren Beutel fallen; er bückte sich so nachl?ssig, da? sie ihn wieder hatte, bevor er zur Stelle war. Trotzdem sagte sie danke, ganz weich, fast besch?mt – was Diederich ?rgerte. ?Kokette Weiber sind etwas Gr??liches", dachte er. Sie suchte in ihrem Beutel.

[pg 17] ?Jetzt hab' ich es doch verloren. Mein englisches Pflaster n?mlich. Es blutet wieder."

Sie wickelte ihren Finger aus dem Taschentuch. Er hatte so sehr die Wei?e des Schnees, da? Diederich der Gedanke kam, das Blut, das darauf lag, müsse hineinsickern.

?Ich habe welches", sagte er, mit einem Ruck.

Er ergriff ihren Finger, und bevor sie das Blut wegwischen konnte, hatte er es abgeleckt.

?Was machen Sie denn?"

Er war selbst erschrocken. Er sagte mit streng gefalteten Brauen: ?O, ich als Chemiker probiere noch ganz andere Sachen."

Sie l?chelte. ?Ach ja, Sie sind eine Art Doktor ... Wie gut Sie das k?nnen", bemerkte sie und sah ihm beim Aufkleben des Pflasters zu.

?So", machte er ablehnend, und trat zurück. Ihm war es schwül geworden, er dachte: ?Wenn man nur nicht immer ihre Haut anfassen mü?te! Sie ist widerlich weich." Agnes sah an ihm vorbei. Nach einer Pause versuchte sie: ?Haben wir nicht eigentlich in Netzig gemeinschaftliche Verwandte?" Und sie n?tigte ihn, mit ihr ein paar Familien durchzugehen. Es stellte sich Vetternschaft heraus.

?Sie haben auch noch Ihre Mutter, nicht? Dann k?nnen Sie sich freuen. Meine ist l?ngst tot. Ich werde wohl auch nicht lange leben. Man hat so Ahnungen" – und sie l?chelte wehmütig und entschuldigend.

Diederich beschlo? schweigend, diese Sentimentalit?t albern zu finden. Noch eine Pause – und wie sie beide eilig zum Sprechen ansetzten, kam der Mecklenburger dazwischen. Die Hand Diederichs drückte er so kraftvoll, da? Diederichs Gesicht sich verzerrte, und zugleich l?chelte er ihm sieghaft in die Augen. Ohne weiteres zog er einen [pg 18]Stuhl bis vor Agnes' Knie und fragte heiter und mit Autorit?t nach allem M?glichen, was nur sie beide anging. Diederich war sich selbst überlassen und entdeckte, da? Agnes, so in Ruhe betrachtet, viel von ihren Schrecken verlor. Eigentlich war sie nicht hübsch. Sie hatte eine zu kleine, nach innen gebogene Nase, auf deren freilich sehr schmalem Rücken Sommersprossen sa?en. Ihre gelbbraunen Augen lagen zu nahe beieinander und zuckten, wenn sie einen ansah. Die Lippen waren zu schmal, das ganze Gesicht war zu schmal. ?Wenn sie nicht so viel braunrotes Haar über der Stirn h?tte und dazu den wei?en Teint ..." Auch bereitete es ihm Genugtuung, da? der Nagel des Fingers, den er beleckt hatte, nicht ganz sauber gewesen war.

Herr G?ppel kam mit seinen drei Schwestern. Eine von ihnen hatte Mann und Kinder mit. Der Vater und die Tanten umarmten und kü?ten Agnes. Sie taten es mit dringlicher Innigkeit und hatten dabei behutsame Mienen. Das junge M?dchen war schlanker und gr??er als sie alle und blickte ein wenig zerstreut auf sie hinab, die eben an ihren schm?chtigen Schultern hing. Nur ihrem Vater erwiderte sie langsam und ernst seinen Ku?. Diederich sah dem zu und sah in der Sonne die hellblauen Adern, überzogen von roten Haaren, ihre Schl?fe kreuzen.

Er mu?te eine der Tanten ins E?zimmer führen. Der Mecklenburger hatte Agnes' Arm in den seinen geh?ngt. Um den langen Familientisch raschelten die seidenen Sonntagskleider. Die Gehr?cke wurden über den Knien zusammengelegt. Man r?usperte sich, die Herren rieben die H?nde. Dann kam die Suppe.

Diederich sa? von Agnes weit weg und konnte sie nicht sehen, wenn er sich nicht vorbeugte – was er sorgf?ltig [pg 19]vermied. Da seine Nachbarin ihn in Ruhe lie?, a? er gro?e Mengen Kalbsbraten und Blumenkohl. Er h?rte ausführlich das Essen besprechen und mu?te best?tigen, da? es sch?n schmecke. Agnes ward vor dem Salat gewarnt, ihr ward zu Rotwein geraten, und sie sollte Auskunft geben, ob sie heute morgen Gummischuhe angehabt habe. Herr G?ppel erz?hlte, Diederich zugewandt, da? er und seine Schwestern vorhin in der Friedrichstra?e, wei? Gott, auseinander gekommen seien und sich erst im Omnibus wiedergefunden h?tten. ?So etwas kann Ihnen in Netzig auch nicht passieren", rief er voll Stolz über den Tisch. Mahlmann und Agnes sprachen von einem Konzert. Sie wollte bestimmt hin, ihr Papa werde es schon erlauben. Herr G?ppel machte z?rtliche Einw?nde, und der Chor der Tanten begleitete sie. Agnes müsse früh schlafen gehen und bald in gute Luft hinaus; sie habe sich im Winter überanstrengt. Sie bestritt es. ?Ihr la?t mich niemals aus dem Hause. Ihr seid schrecklich."

Diederich nahm innerlich Partei für sie. Er hatte eine Wallung von Heldentum: er h?tte machen wollen, da? sie alles dürfte, da? sie glücklich war und es ihm dankte ... Da fragte Herr G?ppel ihn, ob er in das Konzert wolle, ?Ich wei? nicht", sagte er ver?chtlich und sah Agnes an, die sich vorbeugte. ?Was ist das für eins? Ich gehe nur in Konzerte, wo ich Bier trinken kann."

?Sehr vernünftig", sagte der Schwager des Herrn G?ppel.

Agnes hatte sich zurückgezogen und, Diederich bereute seinen Ausspruch.

Aber die Creme, auf die alle gespannt waren, blieb aus. Herr G?ppel riet seiner Tochter, einmal nachzusehen. Bevor sie ihren Kompotteller hingesetzt hatte, war Diederich [pg 20]aufgesprungen – sein Stuhl flog an die Wand – und festen Schritts zur Tür geeilt. ?Marie! Der Krehm!" rief er hinaus. Rot und ohne jemand anzusehen, ging er wieder an seinen Platz. Aber er merkte ganz gut, sie blinzelten sich zu. Mahlmann stie? sogar h?hnisch den Atem aus. Der Schwager ?u?erte mit künstlicher Harmlosigkeit: ?Immer galant! So soll es sein." Herr G?ppel l?chelte z?rtlich zu Agnes hin, die nicht von ihrem Kompott aufsah. Diederich stemmte das Knie gegen die Tischplatte, da? sie anfing sich zu heben. Er dachte: ?Gott, o Gott, h?tte ich nur das nicht getan!"

Beim Mahlzeitsagen gab er allen die Hand, nur um Agnes drückte er sich herum. Im Berliner Zimmer beim Kaffee w?hlte er seinen Sitz mit Sorgfalt dort, wo Mahlmanns breiter Rücken sie ihm verdeckte. Eine der Tanten wollte sich seiner annehmen.

?Was studieren Sie denn, junger Mann?" fragte sie.

?Chemie."

?Ach so, Physik?"

?Nein, Chemie."

?Ach so."

Und so imposant sie angefangen hatte, hierüber kam sie nicht hinweg. Diederich nannte sie im stillen eine dumme Gans. Die ganze Gesellschaft pa?te ihm nicht. Von feindseliger Schwermut erfüllt, sah er darein, bis die letzten Verwandten aufgebrochen waren. Agnes und ihr Vater hatten sie hinausbegleitet. Herr G?ppel kehrte zurück, erstaunt, den jungen Mann allein noch im Zimmer zu finden. Er schwieg forschend, einmal fa?te er in die Tasche. Als Diederich unvermittelt, ohne um Geld gebeten zu haben, Abschied nahm, bekundete G?ppel gro?e Herzlichkeit. ?Meine Tochter werd' ich von Ihnen [pg 21]grü?en", sagte er sogar, und an der Tür, nachdem er ein wenig überlegt hatte: ?Kommen Sie doch n?chsten Sonntag wieder!"

Diederich war fest entschlossen, das Haus nicht mehr zu betreten. Dennoch lie? er tags darauf alles stehen und liegen, um sich durch die Stadt bis zu einem Gesch?ft zu fragen, wo er für Agnes das Konzertbillett kaufen konnte. Vorher mu?te er auf den Zetteln, die dort hingen, den Namen des Virtuosen herausfinden, den Agnes erw?hnt hatte. War es der? Hatte er so geklungen? Diederich entschlo? sich. Als er dann erfuhr, es koste vier Mark fünfzig, ri? er vor Schrecken die Augen weit auf. So viel Geld, um einen zu sehen, der Musik machte! Wenn man nur einfach wieder fortgekonnt h?tte! Als er bezahlt hatte und drau?en war, entrüstete er sich zun?chst über den Schwindel. Dann bedachte er, da? es für Agnes geschehen sei, und ward von sich selbst erschüttert. Immer weicher und glücklicher ging er durch das Gewühl. Es war das erste Geld, das er für einen anderen Menschen ausgegeben hatte.

Er legte das Billett in einen Umschlag, in den er nichts weiter legte, und schrieb die Adresse, um sich nicht zu verraten, mit Sch?nschrift. Wie er dann am Briefkasten stand, kam Mahlmann daher und lachte h?hnisch. Diederich fühlte sich durchschaut; er besah die Hand, die er aus dem Kasten zurückgezogen hatte. Aber Mahlmann bekundete nur die Absicht, sich Diederichs Bude anzusehen. Er fand, es s?he drinnen aus wie bei einer ?lteren Dame. Sogar die Kaffeekanne hatte Diederich von zu Hause mitgebracht! Diederich sch?mte sich hei?. Als Mahlmann die Chemiebücher ver?chtlich auf- und zuklappte, sch?mte Diederich sich seines Faches. Der Mecklenburger w?lzte [pg 22]sich ins Sofa und fragte: ?Wie gef?llt Ihnen denn die G?ppel? Netter K?fer, was? Nun wird er wieder rot! Poussieren Sie doch! Ich trete zurück, wenn Sie Wert darauf legen. Ich habe Aussicht bei fünfzehn verschiedenen."

Da Diederich nachl?ssig abwehrte:

?Sie, da ist n?mlich was zu machen. Ich mü?te gar nichts von Weibern verstehen. Die roten Haare! – und haben Sie nicht gemerkt, wie sie einen ansieht, wenn sie meint, man wei? es nicht?"

?Mich nicht", sagte Diederich noch geringsch?tziger. ?Ich pfeife auch darauf."

?Ihr Schade!" Mahlmann lachte tobend – worauf er vorschlug, einen Bummel zu machen. Daraus ward eine Bierreise. Die ersten Gaslichter sahen sie beide betrunken. Etwas sp?ter, in der Leipziger Stra?e, bekam Diederich ohne Anla? von Mahlmann eine m?chtige Ohrfeige. Er sagte: ?Au! Das ist aber doch eine –" Vor dem Wort ?Frechheit" schrak er zurück. Der Mecklenburger klopfte ihm auf die Schulter. ?Recht freundlich, Kleiner! Alles blo? Freundschaft!" – und überdies nahm er Diederich die letzten zehn Mark ab ... Vier Tage sp?ter fand er ihn schwach vor Hunger und teilte ihm von dem, was er inzwischen anderswo gepumpt hatte, gro?mütig drei Mark mit. Am Sonntag bei G?ppels – mit weniger leerem Magen w?re Diederich vielleicht nicht hingegangen – erz?hlte Mahlmann, da? He?ling all sein Geld verlumpt habe und sich heute mal satt essen müsse. Herr G?ppel und sein Schwager lachten verst?ndnisvoll, aber Diederich h?tte lieber nie geboren sein wollen, als von Agnes so traurig prüfend angesehen werden. Sie verachtete ihn! Verzweifelt tr?stete er sich. ?Es ist alles [pg 23]eins, sie hat es schon immer getan!" Da fragte sie, ob das Konzertbillett vielleicht von ihm gewesen sei. Alle wandten sich ihm zu.

?Unsinn! Wie sollte ich dazu wohl kommen", entgegnete er so unliebenswürdig, da? sie ihm glaubten. Agnes z?gerte ein wenig, bevor sie wegsah. Mahlmann bot den Damen Pralinees an und stellte die übrigen vor Agnes hin. Diederich kümmerte sich nicht um sie. Er a? noch mehr als das vorige Mal. Da doch alle meinten, er sei nur deswegen da! Als es hie?, der Kaffee solle im Grunewald getrunken werden, erfand Diederich sofort eine Verabredung. Er setzte sogar hinzu: ?Mit jemand, den ich unm?glich warten lassen kann." Herr G?ppel legte ihm seine gedrungene Hand auf die Schulter, blinzelte ihn aus gesenktem Kopf an und sagte halblaut: ?Keine Angst, Sie sind natürlich eingeladen." Aber Diederich beteuerte entrüstet, da? es nicht daran liege. ?Na, wenigstens kommen Sie wieder, sobald Sie Lust haben", schlo? G?ppel, und Agnes nickte dazu. Sie schien sogar etwas sagen zu wollen, aber Diederich wartete es nicht ab. Er ging den Rest des Tages in selbstzufriedener Trauer umher, wie nach Vollziehung eines gro?en Opfers. Am Abend in einem überfüllten Bierlokal sa? er den Kopf aufgestützt und nickte von Zeit zu Zeit auf sein einsames Glas hinab, als verstehe er jetzt das Schicksal.

Was war zu machen gegen die gewaltt?tige Art, in der Mahlmann seine Anleihen aufnahm? Am Sonntag hatte dann der Mecklenburger einen Blumenstrau? für Agnes, und Diederich, der mit leeren H?nden kam, h?tte sagen k?nnen: ?Der ist eigentlich von mir, Fr?ulein." Indessen schwieg er, mit noch mehr Groll gegen Agnes als gegen Mahlmann. Denn Mahlmann forderte zur Bewunderung [pg 24]heraus, wenn er des Nachts einem Unbekannten nachlief, um ihm den Zylinder einzuschlagen – obwohl Diederich keineswegs die Warnung verkannte, die solch ein Vorgang für ihn selbst enthielt.

Ende des Monats, zu seinem Geburtstag, bekam er eine unvorhergesehene Summe, die seine Mutter ihm erspart hatte, und erschien bei G?ppels mit einem Bukett, keinem zu gro?en, um sich nicht blo?zustellen, und auch, um Mahlmann nicht herauszufordern. Das junge M?dchen hatte, wie sie es nahm, ein ergriffenes Gesicht, und Diederich l?chelte herablassend und verlegen zugleich. Dieser Sonntag deuchte ihm unerh?rt festlich; er war nicht überrascht, als man in den Zoologischen Garten gehen wollte.

Die Gesellschaft rückte aus, nachdem Mahlmann sie abgez?hlt hatte: elf Personen. Alle Frauen unterwegs waren, wie G?ppels Schwestern, vollst?ndig anders angezogen als in der Woche: als seien sie heute von einer h?heren Klasse oder h?tten geerbt. Die M?nner trugen Gehr?cke: nur wenige in Verbindung mit schwarzen Hosen, wie Diederich, aber viele mit Strohhüten. Kam man durch eine Seitenstra?e, war sie breit, gleichf?rmig und leer, ohne einen Menschen, ohne einen Pferdeapfel. Einmal doch tanzte ein Kreis kleiner M?dchen in wei?en Kleidern, schwarzen Strümpfen und ganz behangen mit Schleifen, schrill singend, einen Ringelreihen. Gleich darauf, in der Verkehrsader, stürmten schwitzende Matronen einen Omnibus; und die Gesichter der Kommis, die unnachsichtlich mit ihnen um die Pl?tze rangen, sahen neben ihren heftig roten zum Umfallen bla? aus. Alles dr?ngte vorw?rts, alles stürzte einem Ziel zu, wo endlich das Vergnügen anfangen sollte. Alle Mienen sagten hart: ?Nu los, gearbeitet haben wir genug!"

[pg 25] Diederich kehrte vor den Damen den Berliner heraus. In der Stadtbahn eroberte er ihnen mehrere Sitze. Einen Herrn, der im Begriff stand, einen wegzunehmen, hinderte er daran, indem er ihn heftig auf den Fu? trat. Der Herr schrie: ?Flegel!" Diederich antwortete ihm im selben Sinn. Da zeigte es sich, da? Herr G?ppel ihn kannte, und kaum einander vorgestellt, bekundeten Diederich und der andere die ritterlichsten Sitten. Keiner wollte sitzen, um den anderen nicht stehen zu lassen.

Am Tisch im Zoologischen Garten geriet Diederich neben Agnes – warum ging heute alles glücklich? –, und als sie gleich nach dem Kaffee zu den Tieren wollte, unterstützte er sie stürmisch. Er war voll Unternehmungslust. Vor dem engen Gang zwischen den Raubtierk?figen kehrten die Damen um. Diederich trug Agnes seine Begleitung an. ?Da nehmen Sie doch lieber mich mit hinein", sagte Mahlmann. ?Wenn wirklich eine Stange losgehen sollte –"

?Dann machen Sie sie auch nicht wieder fest", entgegnete Agnes und trat ein, w?hrend Mahlmann sein Gel?chter aufschlug. Diederich blieb hinter ihr. Ihm war bange: vor den Bestien, die von rechts und links auf ihn zustürzten, ohne anderen Laut als den des Atems, den sie über ihn hinstie?en – und vor dem jungen M?dchen, dessen Blumenduft ihm voranzog. Ganz hinten wandte sie sich um und sagte:

?Ich mag das Renommieren nicht!"

?Wirklich?" fragte Diederich, vor Freude gerührt.

?Heute sind Sie mal nett", sagte Agnes; und er:

?Ich m?chte es eigentlich immer sein."

?Wirklich?" – Und jetzt war es an ihrer Stimme, ein wenig zu schwanken. Sie sahen einander an, jeder mit [pg 26]einer Miene, als verdiente er das alles nicht. Das junge M?dchen sagte klagend:

?Die Tiere riechen aber furchtbar."

Und sie gingen zurück.

Mahlmann empfing sie. ?Ich wollte nur sehen, ob Sie nicht ausrei?en würden." Dann nahm er Diederich beiseite. ?Na? Was macht die Kleine? Geht es bei Ihnen auch? Ich habe es gleich gesagt, da? es keine Kunst ist."

Da Diederich stumm blieb:

?Sie sind wohl scharf ins Zeug gegangen? Wissen Sie was? Ich bin nur noch ein Semester in Berlin: dann k?nnen Sie mich beerben. Aber so lange warten Sie gef?lligst –" Auf seinem ungeheuren Rumpf ward sein kleiner Kopf pl?tzlich tückisch anzusehen. ?– Freundchen!"

Und Diederich war entlassen. Er hatte einen heftigen Schrecken bekommen und wagte sich gar nicht mehr in Agnes' N?he. Sie h?rte nicht sehr aufmerksam auf Mahlmann, sie rief rückw?rts: ?Papa! Heute ist es sch?n, heute geht es mir aber wirklich gut."

Herr G?ppel nahm ihren Arm zwischen seine beiden H?nde und tat, als wollte er fest zudrücken, aber er berührte sie kaum. Seine blanken Augen lachten und waren feucht. Als die Familie Abschied genommen hatte, versammelte er seine Tochter und die beiden jungen Leute um sich und erkl?rte ihnen, der Tag müsse gefeiert werden; sie wollten die Linden entlang gehen und nachher irgendwo essen.

?Papa wird leichtsinnig!" rief Agnes und sah sich nach Diederich um. Aber er hielt die Augen gesenkt. In der Stadtbahn benahm er sich so ungeschickt, da? er weit von den anderen getrennt ward; und im Gedr?nge der Friedrichsstadt blieb er mit Herrn G?ppel allein zurück. Pl?tz[pg 27]lich hielt G?ppel an, tastete verst?rt auf seinem Magen umher und fragte:

?Wo ist meine Uhr?"

Sie war fort mitsamt der Kette. Mahlmann sagte:

?Wie lange sind Sie schon in Berlin, Herr G?ppel?"

?Jawohl!" – und G?ppel wendete sich an Diederich. ?Drei?ig Jahre bin ich hier, aber das ist mir denn doch noch nicht passiert." Und stolz trotz allem: ?Sehen Sie, das gibt's in Netzig überhaupt nicht!"

Nun mu?te man, statt zu essen, auf das Polizeirevier und ein Verh?r bestehen. Und Agnes hustete. G?ppel zuckte zusammen. ?Wir w?ren jetzt doch zu müde", murmelte er. Mit künstlicher Jovialit?t verabschiedete er Diederich, der Agnes' Hand übersah und linkisch den Hut zog. Auf einmal, mit überraschender Geschicklichkeit und ehe Mahlmann begriff, was vorging, schwang er sich auf einen vorbeifahrenden Omnibus. Er war entkommen! Und jetzt fingen die Ferien an! Er war alles los! Zu Hause freilich warf er die schwersten seiner Chemieb?nde mit Krachen auf den Boden. Er hielt sogar schon die Kaffeekanne in der Hand. Aber bei dem Ger?usch einer Tür begann er sofort, alles wieder aufzulesen. Dann setzte er sich still in die Sofaecke, stützte den Kopf und weinte. W?re es nicht vorher so sch?n gewesen! Er war ihr auf den Leim gegangen. So machten es die M?dchen: da? sie manchmal mit einem so taten, und dabei wollten sie einen nur mit einem Kerl auslachen. Diederich war sich tief bewu?t, da? er es mit so einem Kerl nicht aufnehmen k?nne. Er sah sich neben Mahlmann und würde es nicht begriffen haben, h?tte eine sich für ihn entschieden. ?Was hab' ich mir nur eingebildet?" dachte er. ?Eine, die sich in mich verliebt, mu? wirklich dumm sein." Er litt gro?e Angst, [pg 28]der Mecklenburger k?nne kommen und ihn noch ?rger bedrohen. ?Ich will sie gar nicht mehr. W?re ich nur schon fort!" Die n?chsten Tage sa? er in t?dlicher Spannung bei verschlossener Tür. Kaum war sein Geld da, reiste er.

Seine Mutter fragte, befremdet und eifersüchtig, was er habe. Nach so kurzer Zeit sei er kein Junge mehr. ?Ja, das Berliner Pflaster!"

Diederich griff zu, als sie verlangte, er solle an eine kleine Universit?t, nicht wieder nach Berlin. Der Vater fand, da? es ein Für und ein Wider g?be. Diederich mu?te ihm viel von G?ppels berichten. Ob er die Fabrik gesehen habe. Und war er bei den anderen Gesch?ftsfreunden gewesen? Herr He?ling wünschte, da? Diederich die Ferien benutze, um in der v?terlichen Werkst?tte den Gang der Papierverfertigung kennenzulernen. ?Ich bin nicht mehr der Jüngste, und mein Granatsplitter hat mich auch schon lange nicht so gekitzelt."

Diederich entwischte, sobald er konnte, um im Wald von G?bbelchen oder l?ngs des Ruggebaches bei Gohse spazierenzugehen und sich mit der Natur eins zu fühlen. Denn das konnte er jetzt. Zum erstenmal fiel es ihm auf, da? die Hügel dahinten traurig oder wie eine gro?e Sehnsucht aussahen, und was als Sonne oder Regen vom Himmel fiel, waren Diederichs hei?e Liebe und seine Tr?nen. Denn er weinte viel. Er versuchte sogar zu dichten.

Als er einmal die L?wenapotheke betrat, stand hinter dem Ladentisch sein Schulkamerad Gottlieb Hornung. ?Ja, ich spiel' hier den Sommer über 'n bi?chen Apotheker", erkl?rte er. Er hatte sich sogar schon aus Versehen vergiftet und sich dabei nach hinten zusammengerollt wie ein Aal. Die ganze Stadt hatte davon gesprochen! Aber [pg 29]zum Herbst ging er nun nach Berlin, um die Sache wissenschaftlich anzufassen. Ob denn in Berlin was los sei. Hocherfreut über den Besitz seiner überlegenheit fing Diederich an, mit seinen Berliner Erlebnissen zu prahlen. Der Apotheker verhie?: ?Wir beide zusammen stellen Berlin auf den Kopf."

Und Diederich war schwach genug, zuzusagen. Die kleine Universit?t ward verworfen. Am Ende des Sommers – Hornung hatte noch einige Tage zu praktizieren – kehrte Diederich nach Berlin zurück. Er mied das Zimmer in der Tieckstra?e. Vor Mahlmann und den G?ppels flüchtete er bis nach Gesundbrunnen hinaus. Dort wartete er auf Hornung. Aber Hornung, der seine Abreise gemeldet hatte, blieb aus; und als er endlich kam, trug er eine grüngelbrote Mütze. Er war sofort von einem Kollegen für eine Verbindung gekeilt worden. Auch Diederich sollte ihr beitreten; es waren die Neuteutonen, eine hochfeine Korporation, sagte Hornung; allein sechs Pharmazeuten waren dabei. Diederich verbarg seinen Schrecken unter der Maske der Geringsch?tzung, aber es half nichts. Er solle Hornung nicht blamieren, der von ihm gesprochen habe; einen Besuch wenigstens müsse er machen.

?Aber nur einen", sagte er fest.

Der eine dauerte, bis Diederich unter dem Tisch lag und sie ihn fortschafften. Als er ausgeschlafen hatte, holten sie ihn zum Frühschoppen; Diederich war Konkneipant geworden.

Und für diesen Posten fühlte er sich bestimmt. Er sah sich in einen gro?en Kreis von Menschen versetzt, deren keiner ihm etwas tat oder etwas anderes von ihm verlangte, als da? er trinke. Voll Dankbarkeit und Wohl[pg 30]wollen erhob er gegen jeden, der ihn dazu anregte, sein Glas. Das Trinken und Nichttrinken, das Sitzen, Stehen, Sprechen oder Singen hing meistens nicht von ihm selbst ab. Alles ward laut kommandiert, und wenn man es richtig befolgte, lebte man mit sich und der Welt in Frieden. Als Diederich beim Salamander zum ersten Male nicht nachklappte, l?chelte er in die Runde, beinahe versch?mt durch die eigene Vollkommenheit!

Und das war noch nichts gegen seine Sicherheit im Gesang! Diederich hatte in der Schule zu den besten S?ngern geh?rt und schon in seinem ersten Liederheft die Seitenzahlen auswendig gewu?t, wo jedes Lied zu finden war. Jetzt brauchte er in das Kommersbuch, das auf gro?en N?geln in der Lache von Bier lag, nur den Finger zu schieben, und traf vor allen anderen die Nummer, die gesungen werden sollte. Oft hing er den ganzen Abend mit Ehrerbietung am Munde des Pr?ses: ob vielleicht sein Lieblingsstück daran k?me. Dann dr?hnte er tapfer: ?Sie wissen den Teufel, was Freiheit hei?t", h?rte neben sich den dicken Delitzsch brummen und fühlte sich wohlig geborgen in dem Halbdunkel des niedrigen altdeutschen Lokals, mit den Mützen an der Wand, angesichts des Kranzes ge?ffneter Münder, die alle dasselbe tranken und sangen, bei dem Geruch des Bieres und der K?rper, die es in der W?rme wieder ausschwitzten. Ihm war, wenn es sp?t ward, als schwitze er mit ihnen allen aus demselben K?rper. Er war untergegangen in der Korporation, die für ihn dachte und wollte. Und er war ein Mann, durfte sich selbst hochachten und hatte eine Ehre, weil er dazu geh?rte! Ihn herausrei?en, ihm einzeln etwas anhaben, das konnte keiner! Mahlmann h?tte sich einmal herwagen und es versuchen sollen: zwanzig Mann w?ren statt Die[pg 31]derichs gegen ihn aufgestanden! Diederich wünschte ihn geradezu herbei, so furchtlos war er. Wom?glich sollte er mit G?ppel kommen, dann mochten sie sehen, was aus Diederich geworden war, dann war er ger?cht!

Gleichwohl gab ihm die meiste Sympathie der Harmloseste von allen ein, sein Nachbar, der dicke Delitzsch. Etwas tief Beruhigendes, Vertrauengestattendes wohnte in dieser glatten, wei?en und humorvollen Speckmasse, die unten breit über die Stuhlr?nder quoll, in mehreren Wülsten die Tischh?he erreichte und dort, als sei nun das ?u?erste getan, aufgestützt blieb, ohne eine andere Bewegung als das Heben und Hinstellen des Bierglases. Delitzsch war, wie niemand sonst, an seinem Platz; wer ihn dasitzen sah, verga?, da? er ihn je auf den Beinen erblickt hatte. Er war ausschlie?lich zum Sitzen am Biertisch eingerichtet. Sein Hosenboden, der in jedem anderen Zustand tief und melancholisch herabhing, fand nun seine wahre Gestalt und bl?hte sich machtvoll. Erst mit Delitzsch' hinterem Gesicht blühte auch sein vorderes auf. Lebensfreude übergl?nzte es, und er ward witzig.

Ein Drama entstand, wenn ein junger Fuchs sich den Scherz machte, ihm das Bierglas wegzunehmen. Delitzsch rührte kein Glied, aber seine Miene, die dem geraubten Glase überall hin folgte, enthielt pl?tzlich den ganzen, stürmisch bewegten Ernst des Daseins, und er rief in s?chsischem Schreitenor: ?Junge, da? du mir nischt verschüttest! Was entziehst de mir überhaupt mein' L?bensunterhalt! Das ist 'ne ganz gemeine, b?swilliche Existenzsch?dichung, und ich kann dich glatt verklaachen!"

Dauerte der Spa? zu lange, senkten sich Delitzsch' wei?e Fettwangen, und er bat, er machte sich klein. Sobald er aber das Bier zurück hatte: welche allumfassende Aus[pg 32]s?hnung in seinem L?cheln, welche Verkl?rung! Er sagte: ?Du bist doch ? gutes Luder, du sollst l?m, prost!" – trank aus und klopfte mit dem Deckel nach dem Korpsdiener: ?Herr Oberk?rper!"

Nach einigen Stunden geschah es wohl, da? sein Stuhl sich mit ihm umdrehte und Delitzsch den Kopf über das Becken der Wasserleitung hielt. Das Wasser pl?tscherte, Delitzsch gurgelte erstickt, und ein paar andere stürzten, durch seine Laute angeregt, in die Toilette. Noch ein wenig sauer von Gesicht, aber schon mit frischer Schelmerei, rückte Delitzsch an den Tisch zurück.

?Na, nu geht's ja wieder", sagte er; und: ?Wovon habt 'r denn geredt, w?hrend ich anderweitig besch?ftigt war? Wi?t ihr denn egal nischt wie Weibergeschichten? Was koof' ich mir für die Weiber?" Immer lauter: ?Nich mal ? sauern Schoppen kann 'ch mir dafür koofen. Sie, Herr Oberk?rper!"

Diederich gab ihm recht. Er hatte die Weiber kennengelernt, er war mit ihnen fertig. Unvergleichlich idealere Werte enthielt das Bier.

Das Bier! Der Alkohol! Da sa? man und konnte immer noch mehr davon haben, das Bier war nicht wie kokette Weiber, sondern treu und gemütlich. Beim Bier brauchte man nicht zu handeln, nichts zu wollen und zu erreichen, wie bei den Weibern. Alles kam von selbst. Man schluckte: und da hatte man es schon zu etwas gebracht, fühlte sich auf die H?hen des Lebens bef?rdert und war ein freier Mann, innerlich frei. Das Lokal h?tte von Polizisten umstellt sein dürfen: das Bier, das man schluckte, verwandelte sich in innere Freiheit. Und man hatte sein Examen so gut wie bestanden. Man war ?fertig", war Doktor! Man füllte im bürgerlichen Leben eine [pg 33]Stellung aus, war reich und von Wichtigkeit: Chef einer m?chtigen Fabrik von Ansichtskarten oder Toilettenpapier. Was man mit seiner Lebensarbeit schuf, war in tausend H?nden. Man breitete sich, vom Biertisch her, über die Welt aus, ahnte gro?e Zusammenh?nge, ward eins mit dem Weltgeist. Ja, das Bier erhob einen so sehr über das Selbst, da? man Gott fand!

Gern h?tte er es jahrelang so weitergetrieben. Aber die Neuteutonen lie?en ihn nicht. Fast vom ersten Tage an hatten sie ihm den moralischen und materiellen Wert einer v?lligen Zugeh?rigkeit zur Verbindung geschildert; allm?hlich aber gingen sie immer unverblümter darauf aus, ihn zu keilen. Vergebens berief sich Diederich auf seine anerkannte Stellung als Konkneipant, in die er sich eingelebt habe und die ihn befriedige. Sie entgegneten, da? der Zweck des studentischen Zusammenschlusses, n?mlich die Erziehung zur Mannhaftigkeit und zum Idealismus, durch das Kneipen allein, soviel es auch beitrage, noch nicht ganz erfüllt werde. Diederich zitterte; nur zu gut erkannte er, worauf dieses hinauslief. Er sollte pauken! Schon immer hatte es ihn unheimlich angeweht, wenn sie mit ihren St?cken in der Luft ihm die Schl?ge vorgeführt hatten, die sie einander beigebracht haben wollten; oder wenn einer von ihnen eine schwarze Mütze um den Kopf hatte und nach Jodoform roch. Jetzt dachte er gepre?t: ?Warum bin ich dabei geblieben und Konkneipant geworden! Nun mu? ich 'ran."

Er mu?te. Aber gleich die ersten Erfahrungen beruhigten ihn. Er war so sorgsam eingewickelt, behelmt und bebrillt worden, da? ihm unm?glich viel geschehen konnte. Da er keinen Grund hatte, den Kommandos nicht gerade so willig und gelehrig nachzukommen wie in der Kneipe, [pg 34]lernte er fechten, schneller als andere. Beim ersten Durchzieher ward ihm schwach: über die Wange fühlte er es rinnen. Als er dann gen?ht war, h?tte er am liebsten getanzt vor Glück. Er warf es sich vor, da? er diesen gutmütigen Menschen gef?hrliche Absichten zugetraut hatte. Gerade der, den er am meisten gefürchtet hatte, nahm ihn unter seinen Schutz und ward ihm ein wohlgesinnter Erzieher.

Wiebel war Jurist, was ihm allein schon Diederichs Unterordnung gesichert h?tte. Nicht ohne Selbstzerknirschung sah er die englischen Stoffe an, in die Wiebel sich kleidete, und die farbigen Hemden, von denen er immer mehrere abwechselnd trug, bis sie alle in die W?sche mu?ten. Das Beklemmendste aber waren Wiebels Manieren. Wenn er mit leichter eleganter Verbeugung Diederich zutrank, klappte Diederich – und seine Miene war leidend vor Anstrengung – tief zusammen, verschüttete die eine H?lfte und verschluckte sich mit der anderen. Wiebel sprach mit leiser, arroganter Feudalstimme.

?Man kann sagen, was man will," bemerkte er gern, ?Formen sind kein leerer Wahn."

Für das F in ?Formen" machte er seinen Mund zu einem kleinen schwarzen Mausloch und stie? es langsam geschwellt heraus. Diederich unterlag jedesmal wieder dem Schauer von so viel Vornehmheit. Alles an Wiebel dünkte ihm erlesen: da? die r?tlichen Barthaare ganz oben auf der Lippe wuchsen und seine langen, gekrümmten N?gel nach unten gekrümmt, nicht, wie bei Diederich, nach oben; der starke m?nnliche Duft, der von Wiebel ausging, auch seine abstehenden Ohren, die die Wirkung des durchgezogenen Scheitels erh?hten, und die katerhaft in Schl?fenwulste gebetteten Augen. Diederich hatte das [pg 35]alles immer nur im unbedingten Gefühl des eigenen Unwertes mit angesehen. Seit aber Wiebel ihn anredete und sich sogar zu seinem G?nner machte, war es Diederich, als sei ihm erst jetzt das Recht auf Dasein best?tigt. Er hatte Lust, dankbar zu wedeln. Sein Herz weitete sich vor glücklicher Bewunderung. Wenn seine Wünsche sich so hoch hinausgewagt h?tten, auch er h?tte gern solchen roten Hals gehabt und immer geschwitzt. Welch ein Traum, s?useln zu k?nnen wie Wiebel!

Und nun durfte Diederich ihm dienen, er war sein Leibfuchs! Stets wohnte er Wiebels Erwachen bei, suchte ihm seine Sachen zusammen – und da Wiebel infolge unregelm??iger Bezahlung mit der Wirtin schlecht stand, besorgte Diederich ihm den Kaffee und reinigte ihm die Schuhe. Dafür durfte er mitgehen auf allen Wegen. Wenn Wiebel ein Bedürfnis verrichtete, hielt Diederich drau?en Wache, und er wünschte sich nur, seinen Schl?ger da zu haben, um ihn schultern zu k?nnen.

Wiebel h?tte es verdient. Die Ehre der Korporation, in der auch Diederichs Ehre und sein ganzes Schuldbewu?tsein wurzelten, am gl?nzendsten vertrat Wiebel sie. Er schlug sich, mit wem man wollte, für die Neuteutonia. Er hatte das Ansehen der Verbindung erh?ht, denn er sollte einst einen Vindoborussen koramiert haben! Auch hatte er einen Verwandten beim Zweiten Garde-Grenadierregiment Kaiser Franz Joseph; und so oft Wiebel seinen Vetter von Klappke erw?hnte, machte die ganze Neuteutonia eine geschmeichelte Verbeugung. Diederich suchte sich einen Wiebel in der Uniform eines Gardeoffiziers vorzustellen; aber so viel Vornehmheit war nicht auszudenken. Eines Tages dann, wie er mit Gottlieb Hornung, weithin duftend, vom t?glichen Frisieren kam, stand [pg 36]an einer Stra?enecke Wiebel mit einem Zahlmeister. Kein Irrtum: es war ein Zahlmeister – und als Wiebel ihr Kommen bemerkte, drehte er ihnen den Rücken. Auch sie wendeten und machten sich stumm und stramm davon, ohne einander anzusehen und ohne eine Bemerkung. Jeder vermutete, da? auch der andere die ?hnlichkeit des Zahlmeisters mit Wiebel festgestellt habe. Und vielleicht kannten die übrigen schon l?ngst den wahren Sachverhalt? Aber allen stand die Ehre der Neuteutonia hoch genug, um zu schweigen, ja, um das Erblickte zu vergessen. Als Wiebel das n?chste Mal ?mein Vetter von Klappke" sagte, verbeugten Diederich und Hornung sich mit den anderen, geschmeichelt wie je.

Schon hatte Diederich Selbstbeherrschung gelernt, Beobachtung der Formen, Korpsgeist, Eifer für das H?here. Nur mit Mitleid und Widerwillen dachte er an das elende Dasein des schweifenden Wilden, das früher das seine gewesen war. Jetzt war Ordnung und Pflicht in sein Leben gebracht. Zu genau eingehaltenen Stunden erschien er auf Wiebels Bude, im Fechtsaal, beim Friseur und zum Frühschoppen. Der Nachmittagsbummel leitete zur Kneipe über; und jeder Schritt geschah in Korporation, unter Aufsicht und mit Wahrung peinlicher Formen und gegenseitiger Ehrerbietung, die gemütvolle Derbheit nicht ausschlo?. Ein Kommilitone, mit dem Diederich bisher nur offiziellen Verkehr unterhalten hatte, stie? einst mit ihm vor der Toilette zusammen, und obwohl sie beide kaum noch gerade stehen konnten, wollte keiner den Vortritt annehmen. Lange komplimentierten sie sich – bis sie pl?tzlich, im gleichen Augenblick vom Drang überw?ltigt, wie zwei zusammenprallende Eber durch die Tür brachen, da? ihnen die Schulterknochen knackten. Das war der Beginn [pg 37]einer Freundschaft. In menschlicher Lage einander n?her gekommen, rückten sie nachher auch am offiziellen Kneiptisch zusammen, tranken Schmollis und nannten sich ?Schweinehund" und ?Nilpferd".

Nicht immer zeigte das Verbindungsleben seine heitere Seite. Es forderte Opfer; es übte im m?nnlichen Ertragen des Schmerzes. Delitzsch selbst, der Quell so mancher Heiterkeit, verbreitete Trauer in der Neuteutonia. Eines Vormittags, wie Wiebel und Diederich ihn abzuholen kamen: er stand am Waschtisch und sagte noch: ?Na da. Habt 'r heit aach so ? Durscht?" – pl?tzlich, ehe sie zugreifen konnten, fiel er hin, mitsamt dem Waschgeschirr. Wiebel befühlte ihn: Delitzsch regte sich nicht mehr.

?Herzklaps", sagte Wiebel kurz. Er ging stramm zur Klingel. Diederich hob die Scherben auf und trocknete den Boden. Dann trugen sie Delitzsch auf das Bett. Dem formlosen Gejammer der Wirtin gegenüber verharrten beide in streng kommentm??iger Haltung. Unterwegs zur Erledigung des weiteren – sie marschierten im Takt nebeneinander – sagte Wiebel mit straffer Todesverachtung:

?So was kann jedem von uns passieren. Kneipen ist kein Spa?. Das kann sich jeder gesagt sein lassen."

Und mit allen anderen fühlte Diederich sich gehoben durch Delitzsch' treue Pflichterfüllung, durch seinen Tod auf dem Felde der Ehre. Mit Stolz folgten sie dem Sarge; ?Neuteutonia sei's Panier", stand in jeder Miene. Auf dem Friedhof, die umflorten Schl?ger gesenkt, hatten alle das in sich vertiefte Gesicht des Kriegers, den die n?chste Schlacht dahinraffen kann, wie die vorigen den Kameraden; und was der erste Chargierte von dem Geschiedenen rühmte: er habe in der Schule der Mannhaftigkeit [pg 38]und des Idealismus den h?chsten Preis errungen, das erschütterte jeden, als g?lte es ihm selbst.

Hiermit ging Diederichs Lehrzeit zu Ende, denn Wiebel trat aus, um sich auf den Referendar vorzubereiten; und fortan hatte Diederich die von ihm übernommenen Grunds?tze selbst?ndig zu vertreten und sie den Jüngeren einzupflanzen. Er tat es im Gefühl hoher Verantwortlichkeit und mit Strenge. Wehe dem Fuchs, der es verdient hatte, in die Kanne zu steigen. Keine fünf Minuten vergingen, und er mu?te sich an den W?nden hinaustasten. Das Schreckliche geschah, da? einer vor Diederich aus der Tür ging. Seine Bu?e waren acht Tage Bierverschi?. Nicht Stolz oder Eigenliebe leiteten Diederich: einzig sein hoher Begriff von der Ehre der Korporation. Er selbst war nur ein Mensch, also nichts; jedes Recht, sein ganzes Ansehen und Gewicht kamen ihm von ihr. Auch k?rperlich verdankte er ihr alles: die Breite seines wei?en Gesichts, seinen Bauch, der ihn den Füchsen ehrwürdig machte, und das Privileg, bei festlichen Anl?ssen in hohen Stiefeln mit Band und Mütze aufzutreten, den Genu? der Uniform! Wohl hatte er noch immer einem Leutnant Platz zu machen, denn die K?rperschaft, der der Leutnant angeh?rte, war offenbar die h?here; aber wenigstens mit einem Trambahnschaffner konnte er furchtlos verkehren, ohne Gefahr, von ihm angeschnauzt zu werden. Seine M?nnlichkeit stand ihm mit Schmissen, die das Kinn spalteten, rissig durch die Wangen fuhren und in den kurz geschorenen Sch?del hackten, drohend auf dem Gesicht geschrieben – und welche Genugtuung, sie t?glich und nach Belieben einem jeden beweisen zu k?nnen! Einmal bot sich eine unerwartet gl?nzende Gelegenheit. Zu dritt, mit Gottlieb Hornung und dem Dienstm?dchen ihrer Wir[pg 39]tin, waren sie beim Tanz in Halensee. Seit einigen Monaten teilten die Freunde sich eine Wohnung, mit der ein ziemlich hübsches Dienstm?dchen verbunden war, machten ihr beide kleine Geschenke und gingen des Sonntags gemeinsam mit ihr aus. Ob Hornung es so weit bei ihr gebracht hatte wie er selbst, darüber hatte Diederich seine privaten Vermutungen. Offiziell und von Verbindungs wegen war es ihm unbekannt.

Rosa war nicht übel angezogen, auf dem Ball fand sie Bewerber. Damit Diederich noch eine Polka bekam, war er gen?tigt, sie daran zu erinnern, da? er ihr die Handschuhe gekauft habe. Schon machte er zur Einleitung des Tanzes seine korrekte Verbeugung, da dr?ngte sich unversehens ein anderer dazwischen und polkte mit Rosa von dannen. Betreten sah Diederich ihnen nach, im dunklen Gefühl, da? er hier werde einschreiten müssen. Bevor er sich aber regte, war ein M?dchen durch die tanzenden Paare gestürzt, hatte Rosa geohrfeigt und sie in unzarter Weise von ihrem Partner getrennt. Dies sehen und auf Rosas R?uber losmarschieren, war für Diederich eins.

?Mein Herr," sagte er und sah ihm fest in die Augen, ?Ihr Benehmen ist unqualifizierbar."

Der andere erwiderte:

?Wennschon."

überrascht von dieser ungew?hnlichen Wendung eines offiziellen Gespr?chs, stammelte Diederich:

?Knote."

Der andere erwiderte prompt:

?Schote" – und lachte dabei. Durch so viel Formlosigkeit vollends aus der Fassung gebracht, wollte Diederich sich schon verbeugen und abtreten; aber der andere [pg 40]stie? ihn pl?tzlich vor den Bauch – und gleich darauf w?lzten sie sich zusammen am Boden. Umringt von Gekreisch und anfeuernden Zurufen k?mpften sie, bis man sie trennte. Gottlieb Hornung, der Diederichs Klemmer suchen half, rief: ?Da rei?t er aus" – und war schon hinterher. Diederich folgte. Sie sahen den anderen mit einem Begleiter gerade noch in eine Droschke steigen und nahmen die n?chste. Hornung behauptete, die Verbindung dürfe das nicht auf sich sitzen lassen. ?So was kneift und bekümmert sich nicht mal mehr um die Dame." Diederich erkl?rte:

?Was Rosa betrifft, die ist für mich erledigt."

?Für mich auch."

Die Fahrt war aufregend. ?Ob wir nachkommen? Wir haben einen lahmen Gaul." ?Wenn der Prolet nun nicht satisfaktionsf?hig ist?" Man entschied: ?Dann hat die Sache offiziell nicht stattgefunden."

Der erste Wagen hielt im Westen vor einem anst?ndigen Haus. Diederich und Hornung trafen ein, wie das Tor zugeschlagen ward. Entschlossen postierten sie sich davor. Es ward kühl, sie marschierten hin und her vor dem Hause, zwanzig Schritte nach links, zwanzig Schritte nach rechts, behielten immer die Tür im Auge und wiederholten immer dieselben ernsten und weittragenden Reden. Nur Pistolen kamen hier in Frage! Diesmal war die Ehre der Neuteutonia teuer zu bezahlen! Wenn es nur kein Prolet war!

Endlich kam der Portier zum Vorschein, und sie nahmen ihn ins Verh?r. Sie suchten ihm die Herren zu beschreiben, fanden aber, da? die beiden keine besonderen Kennzeichen hatten. Hornung, noch leidenschaftlicher als Diederich, blieb dabei, da? man warten müsse, und noch zwei Stun[pg 41]den lang marschierten sie hin und her, dann bogen aus dem Hause zwei Offiziere. Diederich und Hornung rissen die Augen auf, ungewi?, ob hier nicht ein Irrtum vorlag. Die Offiziere stutzten. Einer schien sogar zu erbleichen. Da entschlo? Diederich sich. Er trat vor den Erbleichten hin.

?Mein Herr –"

Die Stimme versagte ihm. Der Leutnant sagte, verlegen: ?Sie irren sich wohl."

Diederich brachte hervor:

?Durchaus nicht. Ich mu? Genugtuung fordern. Sie haben sich –"

?Ich kenne Sie ja gar nicht", stammelte der Leutnant. Aber sein Kamerad flüsterte ihm etwas zu: ?So geht das nicht" – er lie? sich von dem anderen die Karte geben, legte seine eigene dazu und überreichte sie Diederich. Diederich gab die seine her; dann las er: ?Albrecht Graf Tauern-B?renheim". Da nahm er sich nicht mehr die Zeit, auch die andere zu lesen, sondern begann kleine, eifrige Verbeugungen zu vollführen. Der zweite Offizier wandte sich inzwischen an Gottlieb Hornung.

?Mein Freund hat den Scherz natürlich ganz harmlos gemeint. Er w?re selbstverst?ndlich zu jeder Genugtuung bereit; ich will nur feststellen, da? eine beleidigende Absicht nicht vorliegt."

Der andere, den er dabei ansah, hob die Schultern. Diederich stammelte: ?O danke sehr."

?Damit ist die Sache wohl erledigt", sagte der Freund; und die beiden Herren entfernten sich.

Diederich stand noch da, die Stirn feucht und mit befangenen Sinnen. Pl?tzlich seufzte er tief auf und l?chelte langsam.

[pg 42]

Nachher auf der Kneipe war die Rede nur von diesem Vorfall. Diederich rühmte den Kommilitonen das wahrhaft ritterliche Verhalten des Grafen.

?Ein wirklicher Edelmann verleugnet sich doch nie."

Er machte den Mund klein wie ein Mausloch und stie? in langsamer Schwellung die Worte hervor:

?F – formen sind doch kein leerer Wahn."

Immer wieder rief er Gottlieb Hornung als Zeugen seines gro?en Augenblickes auf.

?So gar nichts Steifes, wie? Oh! Auf einen doch immerhin gewagten Scherz kommt es solchem Herrn nicht an. Eine Haltung dabei: t–hadellos, kann ich euch sagen. Die Erkl?rungen Seiner Erlaucht waren so durchaus befriedigend, da? ich meinerseits unm?glich –: Ihr begreift, man ist kein Rauhbein."

Alle begriffen es und best?tigten Diederich, da? die Neuteutonia in dieser Sache durchaus anst?ndig abgeschnitten habe. Die Karten der beiden Edelleute wurden bei den Füchsen umhergereicht und zwischen den gekreuzten Schl?gern am Kaiserbild befestigt. Kein Neuteutone, der sich heute nicht betrank.

Damit endete das Semester; aber Diederich und Hornung hatten für die Heimreise kein Geld. Das Geld fehlte ihnen schon l?ngst für fast alles. Mit Rücksicht auf die Pflichten des Verbindungslebens war Diederichs Wechsel auf zweihundertfünfzig Mark erh?ht worden; und doch übermannten ihn die Schulden. Alle Quellen schienen ausgepumpt, nur dürres Land sah man, verschmachtend, sich dahindehnen – und endlich mu?te man wohl, so wenig dies Rittern angestanden h?tte, über die Zurückforderung dessen beraten, was sie selbst im Lauf der Zeiten an Kommilitonen verliehen hatten. Gewi? war mancher [pg 43]alte Herr inzwischen zu gro?en Geldern gelangt. Hornung fand keinen; Diederich verfiel auf Mahlmann.

?Bei dem geht es", erkl?rte er. ?Der war bei gar keiner Verbindung: ein ganz gemeiner Ruppsack. Dem werd' ich mal auf die Bude steigen."

Aber als Mahlmann ihn erblickte, brach er ohne weiteres in sein riesenhaftes Lachen aus, da? Diederich fast vergessen hatte und das ihn sofort unwiderstehlich herabstimmte. Mahlmann war taktlos! Er h?tte doch fühlen sollen, da? hier in seinem Patentbureau mit Diederich die ganze Neuteutonia moralisch zugegen war, und h?tte Diederich um ihretwillen Achtung erweisen sollen. Diederich hatte den Eindruck, als sei er aus der kraftspendenden Gesamtheit j?h herausgerissen und stehe hier als einzelner Mensch vor einem anderen. Eine nicht vorhergesehene, unliebsame Lage! Um so unbefangener trug er seine Sache vor. Oh! Er wolle kein Geld zurück, das würde er einem Kameraden niemals zugemutet haben! Mahlmann m?ge nur so gef?llig sein, ihm für einen Wechsel zu bürgen. Mahlmann lehnte sich in seinen Schreibsessel zurück und sagte breit und selbstverst?ndlich:

?Nein."

Diederich, betroffen:

?Wieso, nein?"

?Bürgen ist gegen meine Prinzipien", erkl?rte Mahlmann.

Diederich err?tete vor Entrüstung. ?Aber ich habe doch auch für Sie gebürgt, und dann ist der Wechsel an mich gekommen, und ich mu?te für Sie hundert Mark blechen. Sie haben sich gehütet!"

?Sehen Sie wohl? Und wenn ich jetzt für Sie bürgen wollte, würden Sie auch nicht bezahlen."

[pg 44] Diederich ri? nur noch die Augen auf.

?Nein, Freundchen," schlo? Mahlmann; ?wenn ich Selbstmord begehen will, brauch' ich Sie nicht dazu."

Diederich fa?te sich, er sagte herausfordernd:

?Sie haben wohl keinen Komment, mein Herr."

?Nein", wiederholte Mahlmann und lachte ungeheuerlich.

Mit ?u?erstem Nachdruck stellte Diederich fest: ?Dann scheinen Sie überhaupt ein Schwindler zu sein. Es soll ja gewisse Patentschwindler geben."

Mahlmann lachte nicht mehr; die Augen in seinem kleinen Kopf waren tückisch geworden, und er stand auf. ?Nun müssen Sie 'rausgehen", sagte er, ohne Erregung. ?Unter uns w?re es wohl Wurst, aber nebenan sitzen meine Angestellten, die dürfen so was nicht h?ren."

Er packte Diederich an den Schultern, drehte ihn herum und schob ihn vor sich her. Für jeden Versuch, sich loszumachen, bekam Diederich einen m?chtigen Knuff.

?Ich fordere Genugtuung", schrie er, ?Sie müssen sich mit mir schlagen!"

?Ich bin schon dabei. Merken Sie es nicht? Dann will ich noch einen rufen." Er ?ffnete die Tür. ?Friedrich!" Und Diederich ward einem Packer überliefert, der ihn die Treppe hinabbef?rderte. Mahlmann rief ihm nach:

?Nichts für ungut, Freundchen. Wenn Sie ein andermal was auf dem Herzen haben, kommen Sie ruhig wieder!"

Diederich brachte sich in Ordnung und verlie? das Haus in guter Haltung. Um so schlimmer für Mahlmann, wenn er sich so aufführte! Diederich hatte sich nichts vorzuwerfen; vor einem Ehrengericht w?re er gl?nzend dagestanden. Etwas h?chst Anst??iges blieb es, da? ein ein[pg 45]zelner sich so viel erlauben konnte; Diederich war gekr?nkt im Namen s?mtlicher Korporationen. Andererseits war es nicht zu leugnen, da? Mahlmann Diederichs alte Hochachtung wieder betr?chtlich aufgefrischt hatte. ?Ein ganz gemeiner Hund", dachte Diederich. ?Aber so mu? man sein ..."

Zu Hause lag ein eingeschriebener Brief.

?Nun k?nnen wir fortmachen", sagte Hornung.

?Wieso wir? Ich brauch' mein Geld selbst."

?Du machst wohl Spa?. Ich kann hier doch nicht allein sitzenbleiben."

?Dann such' dir Gesellschaft!"

Diederich schlug ein solches Gel?chter auf, da? Hornung ihn für verrückt hielt. Darauf reiste er wirklich.

Unterwegs sah er erst, da? der Brief von seiner Mutter adressiert war. Das war ungew?hnlich ... Seit ihrer letzten Karte, sagte sie, sei es mit seinem Vater noch viel schlimmer geworden. Warum Diederich nicht gekommen sei.

?Wir müssen uns auf das Entsetzlichste gefa?t machen. Wenn Du unseren innigst geliebten Papa noch einmal sehen willst, o dann s?ume nicht l?nger, mein Sohn!"

Bei dieser Ausdrucksweise ward es Diederich ungemütlich. Er entschlo? sich, seiner Mutter einfach nicht zu glauben. ?Weibern glaub' ich überhaupt nichts, und mit Mama ist es nun mal nicht richtig."

Trotzdem tat Herr He?ling bei Diederichs Ankunft gerade die letzten Atemzüge.

Von dem Anblick überw?ltigt, brach Diederich gleich auf der Schwelle in ein ganz formloses Geheul aus. Er stolperte zum Bett, sein Gesicht war im Augenblick na? wie beim Waschen; und mit den Armen tat er lauter kurze Flügelschl?ge und lie? sie machtlos gegen die Hüften [pg 46]klappen. Pl?tzlich erkannte er auf der Decke des Vaters rechte Hand, kniete hin und kü?te sie. Frau He?ling, ganz still und klein selbst noch bei den letzten Atemzügen ihres Herrn, tat drüben dasselbe mit der linken. Diederich dachte daran, wie dieser verkümmerte schwarze Fingernagel auf seine Wange zugeflogen war, wenn der Vater ihn ohrfeigte; und er weinte laut. Die Prügel gar, als er von den Lumpen die Kn?pfe gestohlen hatte! Diese Hand war schrecklich gewesen; Diederichs Herz krampfte sich, nun er sie verlieren sollte. Er fühlte, da? seine Mutter das gleiche im Sinn hatte, und sie ahnte seine Gedanken. Auf einmal sanken sie einander, über das Bett hinweg, in die Arme.

Bei den Kondolenzbesuchen hatte Diederich sich zurück. Er vertrat vor ganz Netzig, stramm und formensicher, die Neuteutonia, sah sich angestaunt und verga? darüber fast, da? er trauerte. Dem alten Herrn Buck ging er bis zur ?u?eren Tür entgegen. Die Beleibtheit des gro?en Mannes von Netzig ward majest?tisch in seinem gl?nzenden Gehrock. Würdevoll trug der den umgewendeten Zylinderhut vor sich her; und die andere, vom schwarzen Handschuh entbl??te Hand, die er Diederich reichte, fühlte sich überraschend zartfleischig an. Seine blauen Augen drangen warm in Diederich ein, und er sagte:

?Ihr Vater war ein guter Bürger. Junger Mann, werden Sie auch einer! Haben Sie immer Achtung vor den Rechten Ihrer Mitmenschen! Das gebietet Ihnen Ihre eigene Menschenwürde. Ich hoffe, wir werden hier in unserer Stadt noch zusammen für das Gemeinwohl arbeiten. Sie werden jetzt wohl fertig studieren?"

Diederich konnte kaum das Ja herausbringen, so sehr verst?rte ihn die Ehrfurcht. Der alte Buck fragte in leichterem Ton:

[pg 47] ?Hat mein Jüngster Sie in Berlin schon aufgesucht? Nein? O, das soll er tun. Er studiert jetzt auch dort. Wird aber wohl bald sein Jahr abdienen. Haben Sie das schon hinter sich?"

?Nein" – und Diederich ward sehr rot. Er stammelte Entschuldigungen. Es sei ihm bisher ganz unm?glich gewesen, das Studium zu unterbrechen. Aber der alte Buck zuckte die Achseln, als sei der Gegenstand unerheblich.

Durch das Testament des Vaters war Diederich neben dem alten Buchhalter S?tbier zum Vormund seiner beiden Schwestern bestimmt. S?tbier belehrte ihn, da? ein Kapital von siebzigtausend Mark da sei, das als Mitgift der M?dchen dienen solle. Nicht einmal die Zinsen durften angegriffen werden. Der Reingewinn aus der Fabrik hatte in den letzten Jahren durchschnittlich neuntausend Mark betragen. ?Mehr nicht?" fragte Diederich. S?tbier sah ihn an, zuerst entsetzt, dann vorwurfsvoll. Wenn der junge Herr sich vorstellen k?nnte, wie sein seliger Vater und S?tbier das Gesch?ft heraufgearbeitet h?tten! Gewi? war es ja noch ausdehnungsf?hig ...

?Na, is jut", sagte Diederich. Er sah, da? hier vieles ge?ndert werden müsse. Von einem Viertel von neuntausend Mark sollte er leben? Diese Zumutung des Verstorbenen emp?rte ihn. Als seine Mutter behauptete, der Selige habe auf dem Sterbebette die Zuversicht ge?u?ert, in seinem Sohn Diederich werde er fortleben, und Diederich werde sich niemals verheiraten, um immer für die Seinen zu sorgen, da brach Diederich aus. ?Vater war nicht so krankhaft sentimental wie du," schrie er, ?und er log auch nicht." Frau He?ling glaubte den Seligen zu h?ren und duckte sich. Dies benutzte Diederich, um seinen Monatswechsel um fünfzig Mark erh?hen zu lassen.

[pg 48] ?Zun?chst", sagte er rauh, ?hab' ich mein Jahr abzudienen. Das kostet, was es kostet. Mit euren kleinlichen Geldgeschichten k?nnt ihr mir sp?ter kommen."

Er bestand sogar darauf, in Berlin einzutreten. Der Tod des Vaters hatte ihm wilde Freiheitsgefühle gegeben. Nachts freilich tr?umte er, der alte Herr trete aus dem Kontor, mit dem ergrauten Gesicht, das er als Leiche gehabt hatte – und schwitzend erwachte Diederich.

Er reiste, versehen mit dem Segen der Mutter. Gottlieb Hornung und ihre gemeinsame Rosa konnte er fortan nicht brauchen und zog um. Den Neuteutonen zeigte er in angemessener Form seine ver?nderten Lebensumst?nde an. Die Burschenherrlichkeit war vorüber. Der Abschiedskommers! Trauersalamander wurden gerieben, die für Diederichs alten Herrn bestimmt waren, aber die auch ihm und seiner sch?nsten Blütezeit gelten konnten. Vor lauter Hingabe gelangte er unter den Tisch, wie am Abend seiner Aufnahme als Konkneipant; und war nun alter Herr.

Arg verkatert stand er tags darauf, inmitten anderer jungen Leute, die alle, wie er selbst, ganz nackt ausgezogen waren, vor dem Stabsarzt. Dieser Herr sah angewidert über all das m?nnliche Fleisch hin, das ihm unterbreitet war; an Diederichs Bauch aber ward sein Blick h?hnisch. Sofort grinsten alle ringsum, und Diederich blieb nichts übrig, als auch seinerseits die Augen auf seinen Bauch zu senken, der err?tet war ... Der Stabsarzt hatte seinen vollen Ernst zurück. Einem, der nicht so scharf h?rte, wie es Vorschrift war, erging es schlecht, denn man kannte die Simulanten! Ein anderer, der noch dazu Levysohn hie?, bekam die Lehre: ?Wenn Sie mich wieder mal hier bel?stigen, dann waschen Sie sich wenigstens!" Bei Diederich hie? es:

[pg 49] ?Ihnen wollen wir das Fett schon wegkurieren. Vier Wochen Dienst, und ich garantiere Ihnen, da? Sie aussehen wie ein Christenmensch."

Damit war er angenommen. Die Ausgemusterten fuhren so schnell in ihre Kleider, als brennte die Kaserne. Die für tauglich Befundenen sahen einander prüfend von der Seite an und entfernten sich zaudernd, als erwarteten sie, da? eine schwere Hand sich ihnen auf die Schultern lege. Einer, ein Schauspieler mit einem Gesicht, als sei ihm alles eins, kehrte um, stellte sich nochmals vor den Stabsarzt hin und sagte laut, mit sorgf?ltiger Aussprache: ?Ich m?chte noch hinzufügen, da? ich homosexuell bin."

Der Stabsarzt wich zurück, er war ganz rot. Stimmlos sagte er: ?Solche Schweine k?nnen wir allerdings nicht brauchen."

Diederich drückte den künftigen Kameraden seine Entrüstung aus über ein so schamloses Verfahren. Dann sprach er noch den Unteroffizier an, der vorher an der Wand seine K?rperl?nge gemessen hatte, und beteuerte ihm, da? er froh sei. Trotzdem schrieb er nach Netzig an den praktischen Arzt Dr. Heuteufel, der ihn als Jungen im Hals gepinselt hatte: ob der Doktor ihm nicht bescheinigen wolle, da? er skroful?s und rachitisch sei. Er k?nne sich doch nicht ruinieren lassen mit der Schinderei. Aber die Antwort lautete, er solle nur nicht kneifen, das Dienen werde ihm trefflich bekommen. So gab Diederich denn sein Zimmer wieder auf und fuhr mit seinem Handkoffer in die Kaserne. Wenn man schon vierzehn Tage dort wohnen mu?te, konnte man so lange die Miete sparen.

Sofort ging es mit Reckturnen, Springen und anderen atemraubenden Dingen an. Kompagnieweise ward man in den Korridoren, die ?Rayons" hie?en, ?abgerichtet". [pg 50]Leutnant von Kullerow trug eine unbeteiligte Hochn?sigkeit zur Schau, die Einj?hrigen betrachtete er nie anders als mit einem zugekniffenen Auge. Pl?tzlich schrie er: ?Abrichter!" und gab den Unteroffizieren eine Instruktion, worauf er sich verachtungsvoll abwandte. Beim Exerzieren im Kasernenhof, beim Gliederbilden, Sichzerstreuen und Platzwechseln ward weiter nichts beabsichtigt, als die ?Kerls" umherzuhetzen. Ja, Diederich fühlte wohl, da? alles hier, die Behandlung, die gel?ufigen Ausdrücke, die ganze milit?rische T?tigkeit vor allem darauf hinzielte, die pers?nliche Würde auf ein Mindestma? herabzusetzen. Und das imponierte ihm; es gab ihm, so elend er sich befand, und gerade dann, eine tiefe Achtung ein und etwas wie selbstm?rderische Begeisterung. Prinzip und Ideal war ersichtlich das gleiche wie bei den Neuteutonen, nur ward es grausamer durchgeführt. Die Pausen der Gemütlichkeit, in denen man sich seines Menschentums erinnern durfte, fielen fort. J?h und unab?nderlich sank man zur Laus herab, zum Bestandteil, zum Rohstoff, an dem ein unerme?licher Wille knetete. Wahnsinn und Verderben w?re es gewesen, auch nur im geheimsten Herzen sich aufzulehnen. H?chstens konnte man, gegen die eigene überzeugung, sich manchmal drücken. Diederich war beim Laufen gefallen, der Fu? tat ihm weh. Nicht, da? er gerade h?tte hinken müssen, aber er hinkte und durfte, wie die Kompagnie ?ins Gel?nde" marschierte, zurückbleiben. Um dies zu erreichen, war er zun?chst an den Hauptmann selbst herangetreten. ?Herr Hauptmann, bitte –" Welche Katastrophe! Er hatte in seiner Ahnungslosigkeit vorwitzig das Wort an eine Macht gerichtet, von der man stumm und auf den Knien des Geistes Befehle ent[pg 51]gegenzunehmen hatte! Der man sich nur ?vorführen" lassen konnte! Der Hauptmann donnerte, da? die Unteroffiziere zusammenliefen, mit Mienen, in denen das Entsetzen vor einer L?sterung stand. Die Folge war, da? Diederich st?rker hinkte und einen Tag l?nger vom Dienst befreit werden mu?te.

Unteroffizier Vanselow, der für die Untat seines Einj?hrigen verantwortlich war, sagte zu Diederich nur: ?Das will ein gebildeter Mensch sein!" Er war es gewohnt, da? alles Unheil von den Einj?hrigen kam. Vanselow schlief in ihrem Mannschaftszimmer hinter einem Verschlag. Nach dem Lichtl?schen zoteten sie, bis der Unteroffizier emp?rt dazwischenschrie: ?Das wollen gebildete Leute sein!" Trotz seiner langen Erfahrung erwartete er immer noch von den Einj?hrigen mehr Geist und gute Haltung als von den anderen Leuten und war immer neu entt?uscht. In Diederich sah er keineswegs den Schlimmsten. Das Bier, das einer zahlte, entschied nicht allein über Vanselows Meinung. Noch mehr sah Vanselow auf den soldatischen Geist freudiger Unterwerfung, und den hatte Diederich. In der Instruktionsstunde konnte man ihn den anderen als Muster vorhalten. Diederich zeigte sich ganz erfüllt von den milit?rischen Idealen der Tapferkeit und der Ehrliebe. Was die Abzeichen und die Rangordnung betraf, so schien der Sinn dafür ihm angeboren. Vanselow sagte: ?Jetzt bin ich der Herr Kommandierende General", und auf der Stelle benahm Diederich sich, als glaubte er es. Wenn es aber hie?: ?Jetzt bin ich ein Mitglied der k?niglichen Familie", dann war Diederichs Verhalten so, da? es dem Unteroffizier ein L?cheln des Gr??enwahns abn?tigte.

Im Privatgespr?ch in der Kantine er?ffnete Diederich [pg 52]seinem Vorgesetzten, da? er vom Soldatenleben begeistert sei. ?Das Aufgehen im gro?en Ganzen!" sagte er. Er wünsche sich nichts auf der Welt, als ganz dabei zu bleiben. Und er war aufrichtig – was aber nicht hinderte, da? er am Nachmittag, bei den übungen ?im Gel?nde", keinen anderen Wunsch mehr kannte, als sich in den Graben zu legen und nicht mehr vorhanden zu sein. Die Uniform, die ohnedies, aus Rücksichten der Strammheit, zu eng geschnitten war, ward nach dem Essen zum Marterwerkzeug. Was half es, da? der Hauptmann, bei seinen Kommandos, sich uns?glich kühn und kriegerisch auf dem Pferd herumsetzte, wenn man selbst, rennend und schnaufend, die Suppe unverdaut im Magen schlenkern fühlte. Die sachliche Begeisterung, zu der Diederich v?llig bereit war, mu?te zurücktreten hinter der pers?nlichen Not. Der Fu? schmerzte wieder; und Diederich lauschte auf den Schmerz, in der angstvollen, mit Selbstverachtung verbundenen Hoffnung, es m?chte schlimmer werden, so schlimm, da? er nicht wieder ?ins Gel?nde" hinaus mu?te, da? er vielleicht nicht einmal mehr im Kasernenhof üben konnte und da? man gen?tigt war, ihn zu entlassen!

Es kam dahin, da? er am Sonntag den alten Herrn eines Korpsbruders aufsuchte, der Geheimer Sanit?tsrat war. Er müsse ihn um seinen Beistand bitten, sagte Diederich, rot vor Scham. Er sei begeistert für die Armee, für das gro?e Ganze und w?re am liebsten ganz dabei geblieben. Man sei da in einem gro?artigen Betrieb, ein Teil der Macht sozusagen und wisse immer, was man zu tun habe: das sei ein herrliches Gefühl. Aber der Fu? tue nun einmal weh. ?Man darf es doch nicht so weit kommen lassen, da? er unbrauchbar wird. Schlie?lich habe ich Mutter und Geschwister zu ern?hren." Der Geheim[pg 53]rat untersuchte ihn. ?Neuteutonia sei's Panier", sagte er. ?Ich kenne zuf?llig Ihren Oberstabsarzt." Hiervon war Diederich durch seinen Korpsbruder unterrichtet. Er empfahl sich, voll banger Hoffnung.

Die Hoffnung bewirkte, da? er am n?chsten Morgen kaum noch auftreten konnte. Er meldete sich krank. ?Wer sind Sie, was bel?stigen Sie mich?" – und der Stabsarzt ma? ihn. ?Sie sehen aus wie das Leben, Ihr Bauch ist auch schon kleiner." Aber Diederich stand stramm und blieb krank; der Vorgesetzte mu?te sich zu einer Untersuchung herbeilassen. Als er den Fu? zu Gesicht bekam, erkl?rte er, wenn er sich nicht eine Zigarre anzünde, werde ihm unwohl werden. Trotzdem war nichts zu finden an dem Fu?. Der Stabsarzt stie? ihn entrüstet vom Stuhl. ?Macht Dienst, Schlu?, abtreten" – und Diederich war erledigt. Mitten im Exerzieren aber schrie er pl?tzlich auf und fiel um. Er ward ins ?Revier" gebracht, den Aufenthalt der Leichterkrankten, wo es nach Volk roch und nichts zu essen gab. Denn die Selbstbek?stigung, die den Einj?hrigen zustand, war hier nur schwer zu bewerkstelligen, und von den Rationen der anderen bekam er nichts. Vor Hunger meldete er sich gesund. Abgeschnitten von menschlichem Schutz, von allen sittlichen Rechten der bürgerlichen Welt, trug er sein düsteres Geschick; eines Morgens aber, als alle Hoffnung schon dahin war, holte man ihn vom Exerzieren weg auf das Zimmer des Oberstabsarztes. Dieser hohe Vorgesetzte wünschte ihn zu untersuchen. Er hatte einen verlegen menschlichen Ton und schlug dann wieder in milit?rische Schroffheit um, die gleichfalls nicht unbefangen wirkte. Auch er schien nichts Rechtes zu finden, das Ergebnis seines Eingreifens aber klang trotzdem anders. [pg 54]Diederich sollte nur ?vorl?ufig" weiter Dienst machen, das weitere werde sich schon ergeben. ?Bei dem Fu? ..."

Einige Tage sp?ter trat ein ?Revier"gehilfe an Diederich heran und fertigte auf geschw?rztem Papier einen Abdruck des verh?ngnisvollen Fu?es. Diederich ward gen?tigt, im Revierzimmer zu warten. Der Stabsarzt ging eben umher und nahm Gelegenheit, ihm seine volle Verachtung auszudrücken. ?Nicht mal Plattfu?! Stinkt vor Faulheit!" Da aber ward die Tür aufgesto?en, und der Oberstabsarzt, die Mütze auf dem Kopf, hielt seinen Einzug. Sein Schritt war fester und zielbewu?ter als sonst, er sah nicht rechts noch links, wortlos stellte er sich vor seinem Untergebenen auf, den Blick finster und streng auf dessen Mütze. Der Stabsarzt stutzte, er mu?te sich in eine Lage finden, die ersichtlich die gewohnte Kollegialit?t nicht mehr zulie?. Nun hatte er sie erfa?t, nahm die Mütze herunter und stand stramm. Darauf zeigte der Vorgesetzte ihm das Papier mit dem Fu?, sprach leise und mit einer Betonung, die ihm befahl, etwas zu sehen, was nicht da war. Der Stabsarzt blinzelte abwechselnd den Vorgesetzten, Diederich und das Papier an. Dann zog er die Abs?tze zusammen: er hatte das Befohlene gesehen.

Als der Oberstabsarzt fort war, n?herte der Stabsarzt sich Diederich. H?flich, mit einem leisen L?cheln des Einverst?ndnisses, sagte er:

?Der Fall war natürlich von Anfang an klar. Man mu?te nur der Leute wegen –. Sie verstehen, die Disziplin –."

Diederich bekundete durch Strammstehen, da? er alles verstehe.

?Aber", wiederholte der Stabsarzt, ?ich habe natürlich gewu?t, wie Ihr Fall lag."

[pg 55] Diederich dachte: ?Wenn du es nicht gewu?t hast, jetzt wei?t du es." Laut sagte er:

?Gestatte mir gehorsamst zu fragen, Herr Stabsarzt: Ich werde doch weiterdienen dürfen?"

?Dafür kann ich Ihnen nicht garantieren", sagte der Stabsarzt und machte kehrt.

Von schwerem Dienst war Diederich fortan befreit, das ?Gel?nde" sah ihn nicht mehr. Um so williger und freudiger war sein Verhalten in der Kaserne. Wenn des Abends beim Appell der Hauptmann, die Zigarre im Munde und leicht angetrunken, aus dem Kasino kam, um für Stiefel, die nicht geschmiert, sondern gewichst waren, Mittelarrest zu verh?ngen: an Diederich fand er nichts auszusetzen. Um so unerbittlicher übte er seine gerechte Strenge an einem Einj?hrigen, der nun schon im dritten Monat strafweise im Mannschaftszimmer schlafen mu?te, weil er einst, w?hrend der ersten vierzehn Tage, nicht dort, sondern zu Hause geschlafen hatte. Er hatte damals vierzig Grad Fieber gehabt und w?re, wenn er seine Pflicht getan h?tte, vielleicht gestorben. Dann w?re er eben gestorben! Der Hauptmann hatte, sooft er diesen Einj?hrigen ansah, ein Gesicht voll stolzer Genugtuung. Diederich dahinten, klein und unversehrt, dachte: ?Siehst du wohl? Die Neuteutonia und ein Geheimer Sanit?tsrat sind mehr wert als vierzig Grad Fieber ..." Was Diederich betraf, so waren die amtlichen Formalit?ten eines Tages glücklich erfüllt, und der Unteroffizier Vanselow verkündete ihm seine Entlassung. Diederich hatte sofort die Augen voll Tr?nen; er drückte Vanselow warm die Hand.

?Gerade mu? mir das passieren, und ich hatte doch" – er schluchzte – ?so viel Freudigkeit."

Und dann war er ?drau?en".

[pg 56] Vier Wochen lang blieb er zu Hause und büffelte. Wenn er zum Essen ging, sah er sich um, ob ein Bekannter ihn bemerkte. Endlich mu?te er sich den Neuteutonen wohl zeigen. Er trat herausfordernd auf.

?Wer von euch noch nicht dabei war, hat keine Ahnung. Ich sage euch, da sieht man die Welt von einem anderen Standpunkt. Ich w?re überhaupt dabei geblieben, meine Vorgesetzten rieten es mir, ich sei hervorragend qualifiziert. Na und da –"

Er starrte schmerzlich vor sich hin.

?Das Unglück mit dem Gaul. Das kommt davon, wenn man ein zu guter Soldat ist. Der Hauptmann l??t einen in seinem Dogcart fahren, damit der Gaul mal bewegt wird, und da ist das Unglück passiert. Natürlich habe ich den Fu? nicht geschont und zu früh wieder Dienst gemacht. Die Sache verschlimmerte sich erheblich, der Stabsarzt gab mir anheim, für jede Eventualit?t meine Angeh?rigen zu benachrichtigen."

Dies sagte er knapp und m?nnlich.

?Da h?ttet ihr nun den Hauptmann sehen sollen. T?glich kam er selbst, nach den gr??ten M?rschen, mit bestaubter Uniform, wie er war. So was gibt es auch nur beim Milit?r. Wir sind in den b?sen Tagen wahre Kameraden geworden. Hier die Zigarre ist noch von ihm. Und als er mir dann eingestehen mu?te, der Stabsarzt wolle mich fortschicken, ich kann euch versichern, das war einer der Augenblicke im Leben, die man nicht vergi?t. Der Hauptmann und ich, wir kriegten beide gleichzeitig feuchte Augen."

Alle waren erschüttert. Diederich sah tapfer um sich.

?Na, jetzt soll man sich also wieder in das bürgerliche Leben hineinfinden. Prost."

[pg 57] Er büffelte weiter; und am Sonnabend kneipte er mit den Neuteutonen. Auch Wiebel erschien wieder. Er war Assessor, auf dem Wege zum Staatsanwalt und sprach nur noch von ?subversiven Tendenzen", ?Vaterlandsfeinden" und auch vom ?christlich-sozialen Gedanken". Er erkl?rte den Füchsen, es sei an der Zeit, sich mit Politik zu besch?ftigen. Er wisse wohl, da? es nicht für vornehm gelte, aber die Gegner zw?ngen einen dazu. Hochfeudale Herren, wie sein Freund, der Assessor von Barnim, seien in der Bewegung. Herr von Barnim werde demn?chst den Neuteutonen die Ehre geben.

Er kam, und er gewann alle Herzen, denn er benahm sich wie gleich zu gleich. Er hatte dunkles, glatt gescheiteltes Haar, das Wesen eines pflichteifrigen Beamten, sprach sachlich – aber am Schlu? seines Vortrages bekam er Schw?rmeraugen und verabschiedete sich rasch, mit warmen H?ndedrücken. Die Neuteutonen stimmten nach seinem Besuch alle darin überein, da? der jüdische Liberalismus die Vorfrucht der Sozialdemokratie sei und da? die christlichen Deutschen sich um den Hofprediger St?cker zu scharen h?tten. Diederich verband, wie die anderen, mit dem Wort ?Vorfrucht" keinen deutlichen Sinn und verstand unter ?Sozialdemokratie" nur eine allgemeine Teilerei. Das genügte ihm auch. Aber Herr von Barnim hatte jeden, der n?here Aufkl?rung wünschte, zu sich eingeladen, und Diederich würde es sich nicht verziehen haben, wenn er eine so schmeichelhafte Gelegenheit vers?umt h?tte.

In seiner kalten, altmodischen Junggesellenwohnung hielt Herr von Barnim ihm ein Privatissimum. Sein politisches Ziel war eine st?ndische Volksvertretung, wie im glücklichen Mittelalter: Ritter, Geistliche, Gewerbe[pg 58]treibende, Handwerker. Das Handwerk mu?te, der Kaiser hatte es mit Recht gefordert, wieder auf die H?he kommen, wie vor dem Drei?igj?hrigen Krieg. Die Innungen hatten Gottesfurcht und Sittlichkeit zu pflegen. Diederich ?u?erte sein w?rmstes Einverst?ndnis. Es entsprach seinen Trieben, als eingetragenes Mitglied eines Standes, einer Berufsklasse, nicht pers?nlich, sondern korporativ im Leben Fu? zu fassen. Er sah sich schon als Abgeordneter der Papierbranche. Die jüdischen Mitbürger freilich schlo? Herr von Barnim von seiner Ordnung der Dinge aus; waren sie doch das Prinzip der Unordnung und Aufl?sung, des Durcheinanderwerfens, der Respektlosigkeit: das Prinzip des B?sen selbst. Sein frommes Gesicht zog sich zusammen vom Ha?, und Diederich fühlte ihn mit.

?Schlie?lich", meinte er, ?haben wir doch die Gewalt und k?nnen sie hinauswerfen. Das deutsche Heer –"

?Das ist es eben", stie? Herr von Barnim aus, der durch das Zimmer lief. ?Haben wir darum den ruhmreichen Krieg geführt, da? mein v?terliches Gut an einen Herrn Frankfurter verkauft wird?"

W?hrend Diederich noch erschüttert schwieg, klingelte es, und Herr von Barnim sagte:

?Es ist mein Barbier, den will ich mir auch mal vornehmen."

Er bemerkte Diederichs Entt?uschung und setzte hinzu:

?Natürlich rede ich mit solch einem Manne anders. Aber jeder von uns mu? an seinem Teil der Sozialdemokratie Abbruch tun und die kleinen Leute in das Lager unseres christlichen Kaisers hinüberziehen. Tun auch Sie das Ihre!"

Damit war Diederich entlassen. Er h?rte den Barbier noch sagen:

[pg 59] ?Schon wieder ein alter Kunde, Herr Assessor, der zu Liebling hinübergeht, blo? weil Liebling jetzt Marmor hat."

Wiebel sagte, als Diederich ihm berichtete:

?Das ist alles sch?n und gut, und ich habe eine ganz bedeutende Verehrung für die ideale Gesinnung meines Freundes von Barnim, aber auf die Dauer kommen wir damit nicht mehr weiter. Sehen Sie mal, auch St?cker hat im Eispalast seine verdammten Erfahrungen gemacht mit der Demokratie, ob sie sich nun christlich nennt oder unchristlich. Die Dinge sind zu weit gediehen. Heute hei?t es blo? noch: losschlagen, solange wir die Macht haben."

Und Diederich stimmte erleichtert bei. Herumgehen und Christen werben, war ihm gleich ein wenig peinlich erschienen.

?Die Sozialdemokratie nehme ich auf mich, hat der Kaiser gesagt." Wiebels Augen drohten katerhaft. ?Nun, was wollen Sie mehr? Das Milit?r ist darüber instruiert, es k?nne vorkommen, da? es auf die lieben Verwandten schie?en mu?. Also? Ich kann Ihnen mitteilen, mein Lieber, wir stehen am Vorabend gro?er Ereignisse."

Da Diederich erregte Neugier zeigte:

?Was ich durch meinen Vetter von Klappke –."

Wiebel machte eine Pause. Diederich zog die Abs?tze zusammen:

?– in Erfahrung gebracht habe, ist noch nicht für die ?ffentlichkeit reif. Ich will nur bemerken, da? der gestrige Ausspruch Seiner Majest?t, die N?rgler m?chten gef?lligst den deutschen Staub von ihren Pantoffeln schütteln, eine verteufelt ernst zu nehmende Warnung war."

?Tats?chlich? Sie glauben?" sagte Diederich. ?Dann ist mein Pech wirklich skandal?s, da? ich gerade jetzt aus [pg 60]dem Dienst Seiner Majest?t scheiden mu?te. Ich darf sagen, da? ich gegen den inneren Feind meine volle Pflicht getan haben würde. Auf die Armee, so viel wei? ich, kann der Kaiser sich verlassen."

Er war in diesen na?kalten Februartagen des Jahres 1892 viel auf der Stra?e, in der Erwartung gro?er Ereignisse. Unter den Linden hatte sich etwas ver?ndert, man sah noch nicht, was. Berittene Schutzleute hielten an den Mündungen der Stra?en und warteten auch. Die Passanten zeigten einander das Aufgebot der Macht. ?Die Arbeitslosen!" Man blieb stehen, um sie ankommen zu sehen. Sie kamen vom Norden her, in kleinen Abteilungen und im langsamen Marschschritt. Unter den Linden z?gerten sie, wie verwirrt, berieten sich mit den Blicken und lenkten nach dem Schlo? ein. Dort standen sie, stumm, die H?nde in den Taschen, lie?en sich von den R?dern der Wagen mit Schlamm bespritzen und zogen die Schultern hoch unter dem Regen, der auf ihre entf?rbten überzieher fiel. Manche von ihnen wandten die K?pfe nach vorübergehenden Offizieren, nach den Damen in ihren Wagen, nach den langen Pelzen der Herren, die von der Burgstra?e her schlenderten; und ihre Mienen waren ohne Ausdruck, nicht drohend und nicht einmal neugierig, nicht, als wollten sie sehen, sondern als zeigten sie sich. Andere aber lie?en kein Auge von den Fenstern des Schlosses. Das Wasser lief über ihre hinaufgewendeten Gesichter. Ein Pferd mit einem schreienden Schutzmann trieb sie weiter, hinüber oder bis zur n?chsten Ecke – aber schon standen sie wieder, und die Welt schien versunken zwischen diesen breiten hohlen Gesichtern, die fahler Abend beschien, und der starren Mauer dort hinten, auf der es dunkelte.

[pg 61] ?Ich begreife nicht," sagte Diederich, ?da? die Polizei nicht energischer vorgeht. Das ist doch eine unbotm??ige Bande."

?Lassen Sie's gut sein", erwiderte Wiebel. ?Die Schutzleute sind genau instruiert. Die Herren da oben haben ihre wohlüberlegten Absichten, das k?nnen Sie mir glauben. Es ist n?mlich gar nicht immer zu wünschen, da? derartige F?ulniserscheinungen am Staatsk?rper gleich anfangs unterdrückt werden. Man l??t sie ausreifen, dann macht man ganze Arbeit!"

Die Reife, die Wiebel meinte, kam t?glich n?her, am sechsundzwanzigsten schien sie da. Die Demonstrationen der Arbeitslosen sahen zielbewu?ter aus. In eine der n?rdlichen Stra?en zurückgetrieben, quollen sie aus der n?chsten, bevor man ihnen den Weg abschneiden konnte, verst?rkt wieder hervor. Unter den Linden vereinigten sich ihre Züge, rannen, sooft sie getrennt wurden, wieder zusammen, erreichten das Schlo?, wichen zurück und erreichten es noch einmal, stumm und unaufhaltsam wie übergetretenes Wasser. Der Wagenverkehr stockte, die Fu?g?nger stauten sich, mit hineingezogen in die langsame überschwemmung, worin der Platz ertrank, in dies trübe und mi?farbene Meer der Armen, das z?h dahinrollte, dumpfe Laute heraufw?lzte und wie Maste untergegangener Schiffe die Stangen mit den Bannern hinaufreckte: ?Brot! Arbeit!" Ein deutlicheres Grollen, ausbrechend aus der Tiefe, jetzt drüben, jetzt hier: ?Brot! Arbeit!" Anschwellend über die Menge hinrollend, wie aus einer Gewitterwolke: ?Brot! Arbeit!" Eine Attacke der Berittenen, ein Aufsch?umen, Zurückflie?en, und Weiberstimmen im L?rm, schrill, gleich Signalen: ?Brot! Arbeit!"

Man wird überrannt, vom Friedrichdenkmal fegt es die [pg 62]Neugierigen hinunter. Aber sie haben aufgerissene Münder; aus kleinen Beamten, denen der Weg ins Amt versperrt ist, fliegt Staub auf, als würden sie geklopft. Ein verzerrtes Gesicht, das Diederich nicht kennt, schreit ihm zu: ?Es kommt anders! Jetzt geht es gegen die Juden!" – und ist untergegangen, bevor ihm einf?llt, es war Herr von Barnim. Er will ihm nach, wird in einem gro?en Schub weit hinübergeworfen, bis vor das Fenster eines Cafés, h?rt das Klirren der eingedrückten Scheibe, einen Arbeiter, der schreit: ?Da haben se mich neulich 'rausgesetzt for meine drei?ig Fennje, weil ich keinen Zylinderhut hatte" – und dringt mit ein durch das Fenster, zwischen die umgeworfenen Tische, auf den Boden, wo man über Scherben f?llt, einander die B?uche einst??t und laut zetert. ?Niemand mehr 'rein! Wir kriegen keine Luft!" Aber immer mehr steigen ein. ?Die Polizei dr?ngelt!" Und die Mitte der Stra?e sieht man frei liegen, ges?ubert, wie für einen Triumphzug. Da sagt jemand: ?Das ist doch Wilhelm!"

Und Diederich war wieder drau?en. Niemand wu?te, wie es kam, da? man auf einmal marschieren konnte, in gedr?ngter Masse, auf der ganzen Breite der Stra?e und zu beiden Seiten bis an die Flanken des Pferdes, worauf der Kaiser sa?: er selbst. Man sah ihn an und ging mit. Kn?uel von Schreienden wurden aufgel?st und mitgerissen. Alle sahen ihn an. Dunkles Geschiebe, ohne Form, planlos, grenzenlos, und hell darüber ein junger Herr im Helm, der Kaiser. Sie sahen: sie hatten ihn heruntergeholt aus dem Schlo?. Sie hatten: ?Brot! Arbeit!" geschrien, bis er gekommen war. Nichts hatte sich ge?ndert, als da? er da war – und schon marschierten sie, als gehe es auf das Tempelhofer Feld.

[pg 63] Seitw?rts, wo die Reihen dünner waren, sagten bürgerlich Gekleidete zu einander: ?Na, Gott sei Dank, er wei?, was er will!"

?Was will er denn?"

?Der Bande zeigen, wer die Macht hat! Im guten hat er es mit ihnen versucht. Er ist sogar zu weit gegangen in den Erlassen vor zwei Jahren. Sie sind frech geworden."

?Angst kennt er nicht, das mu? man sagen. Kinder, dies ist ein historischer Moment!"

Diederich h?rte es und erschauderte. Der alte Herr, der gesprochen hatte, wandte sich auch an ihn. Er hatte wei?e Bartkoteletts und das Eiserne Kreuz.

?Junger Mann," sagte er, ?was unser herrlicher junger Kaiser da macht, das werden die Kinder mal aus den Schulbüchern lernen. Passen Sie auf!"

Viele hatten gehobene Brüste und feierliche Mienen. Die Herren, die dem Kaiser folgten, blickten mit ?u?erster Entschlossenheit darein, ihre Pferde aber lenkten sie durch das Volk, als seien alle die Leute zum Statieren bei einer Allerh?chsten Aufführung befohlen; und manchmal schielten sie seitw?rts, nach dem Eindruck im Publikum. Er selbst, der Kaiser, sah nur sich und seine Leistung. Tiefer Ernst versteinte seine Züge, sein Auge blitzte hin über die Tausende der von ihm Gebannten. Er ma? sich mit ihnen, der von Gott gesetzte Herr mit den emp?rerischen Knechten! Allein und ungeschützt hatte er sich mitten unter sie gewagt, stark nur durch seine Sendung. Sie konnten sich an ihm vergreifen, wenn es im Plan des H?chsten lag; er brachte seiner heiligen Sache sich selbst zum Opfer. War Gott mit ihm, dann sollten sie es sehen! Dann bewahrten sie für immer das Gepr?ge seiner Tat und die Erinnerung an ihre Ohnmacht!

[pg 64] Ein junger Mensch mit einem Künstlerhut ging neben Diederich, er sagte: ?Kennen wir. Napoleon in Moskau, wie er sich solo unter die Bev?lkerung mischt."

?Das ist doch gro?artig!" behauptete Diederich, und die Stimme versagte ihm. Der andere zuckte die Achseln.

?Theater, und nicht mal gut."

Diederich sah ihn an, er versuchte zu blitzen wie der Kaiser.

?Sie sind wohl auch so einer."

Er h?tte nicht sagen k?nnen was für einer. Er fühlte nur, da? er hier, zum erstenmal im Leben, die gute Sache zu vertreten habe gegen feindliche Bem?ngelungen. Trotz seiner Aufregung sah er sich noch die Schultern des Menschen an: sie waren nicht breit. Auch ?u?erte die Umgebung sich mi?billigend. Da ging Diederich vor. Mit seinem Bauch dr?ngte er den Feind gegen die Mauer und schlug auf den Künstlerhut ein. Andere knufften mit. Der Hut lag schon am Boden und bald auch der Mensch. Im Weitergehen bemerkte Diederich zu seinen Mitk?mpfern:

?Der hat sicher nicht gedient! Schmisse hat er auch keine!"

Der alte Herr mit Bartkoteletts und Eisernem Kreuz war auch wieder da, er drückte Diederich die Hand.

?Brav, junger Mann, brav!"

?Soll man da nicht wütend werden?" erkl?rte Diederich, noch keuchend. ?Wenn der Mensch uns den historischen Moment verekeln will?"

?Sie haben gedient?" fragte der alte Herr.

?Ich w?re am liebsten ganz dabei geblieben", sagte Diederich.

?Na ja, Sedan ist nicht alle Tage" – der alte Herr betupfte sein Eisernes Kreuz. ?Das waren wir!"

Diederich reckte sich, er zeigte auf das bezwungene Volk und den Kaiser.

[pg 65] ?Das ist doch gerade so gut wie Sedan!"

?Na ja", sagte der alte Herr.

?Gestatten Sie mal, sehr geehrter Herr", rief jemand und schwenkte sein Notizbuch. ?Wir müssen das bringen. Stimmungsbild, verstehnse? Sie haben wohl einen Genossen verwalkt?"

?Kleinigkeit" – Diederich keuchte noch immer. ?Meinetwegen k?nnt' es jetzt gleich losgehen gegen den inneren Feind. Unseren Kaiser haben wir mit."

?Fein", sagte der Reporter und schrieb. ?In der wildbewegten Menge h?rt man Leute aller St?nde der treuesten Anh?nglichkeit und dem unerschütterlichen Vertrauen zu der Allerh?chsten Person Ausdruck geben."

?Hurra!" schrie Diederich, denn alle schrien es; und inmitten eines m?chtigen Sto?es von Menschen, der schrie, gelangte er j?h bis unter das Brandenburger Tor. Zwei Schritte vor ihm ritt der Kaiser hindurch. Diederich konnte ihm ins Gesicht sehen, in den steinernen Ernst und das Blitzen; aber ihm verschwamm es vor den Augen, so sehr schrie er. Ein Rausch, h?her und herrlicher als der, den das Bier vermittelt, hob ihn auf die Fu?spitzen, trug ihn durch die Luft. Er schwenkte den Hut hoch über allen K?pfen, in einer Sph?re der begeisterten Raserei, durch einen Himmel, wo unsere ?u?ersten Gefühle kreisen. Auf dem Pferd dort, unter dem Tor der siegreichen Einm?rsche und mit Zügen steinern und blitzend ritt die Macht! Die Macht, die über uns hingeht und deren Hufe wir küssen! Die über Hunger, Trotz und Hohn hingeht! Gegen die wir nichts k?nnen, weil wir alle sie lieben! Die wir im Blut haben, weil wir die Unterwerfung darin haben! Ein Atom sind wir von ihr, ein [pg 66]verschwindendes Molekül von etwas, das sie ausgespuckt hat! Jeder einzelne ein Nichts, steigen wir in gegliederten Massen als Neuteutonen, als Milit?r, Beamtentum, Kirche und Wissenschaft, als Wirtschaftsorganisation und Machtverb?nde kegelf?rmig hinan, bis dort oben, wo sie selbst steht, steinern und blitzend! Leben in ihr, haben teil an ihr, unerbittlich gegen die, die ihr ferner sind, und triumphierend, noch wenn sie uns zerschmettert: denn so rechtfertigt sie unsere Liebe!

... Einer der Schutzleute, deren Kette das Tor absperrte, stie? Diederich vor die Brust, da? ihm der Atem ausblieb; er aber hatte die Augen so voll Siegestaumel, als reite er selbst über alle diese Elenden hinweg, die geb?ndigt ihren Hunger verschluckten. Ihm nach! Dem Kaiser nach! Alle fühlten wie Diederich. Eine Schutzmannskette war zu schwach gegen so viel Gefühl; man durchbrach sie. Drüben stand eine zweite. Man mu?te abbiegen, auf Umwegen den Tiergarten erreichen, einen Durchschlupf finden. Wenige fanden ihn; Diederich war allein, als er auf den Reitweg hinausstürzte, dem Kaiser entgegen, der auch allein war. Ein Mensch im gef?hrlichsten Zustand des Fanatismus, beschmutzt, zerrissen, mit Augen wie ein Wilder: der Kaiser vom Pferd herunter, blitzte ihn an, er durchbohrte ihn. Diederich ri? den Hut ab, sein Mund stand weit offen, aber der Schrei kam nicht. Da er zu pl?tzlich anhielt, glitt er aus und setzte sich mit Wucht in einen Tümpel, die Beine in die Luft, umspritzt von Schmutzwasser. Da lachte der Kaiser. Der Mensch war ein Monarchist, ein treuer Untertan! Der Kaiser wandte sich nach seinen Begleitern um, schlug sich auf den Schenkel und lachte. Diederich aus seinem Tümpel sah ihm nach, den Mund noch offen.

* * *

[pg 67]

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