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Die Armen: Ein Roman

Die Armen: Ein Roman

Heinrich Mann

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Die Armen: Ein Roman by Heinrich Mann

Chapter 1 No.1

Hassende, Liebende

Die Kinder schrien tosend vor dem gro?en Arbeiterhaus von Gausenfeld; hunderte von Kindern, hervorgequollen aus dem überfüllten Haus, worin sie alle geboren waren, rannten, zappelten, prügelten sich auf der grauen Wiese. Alte M?nner, die nicht mehr arbeiteten, standen, wenn sie besonnt war, an der Mauer und sahen ihnen zu. Die Kleinsten fielen unaufh?rlich in den Graben, der die Wiese von der Landstra?e trennte, immer eilten Mütter oder Schwestern zum Retten herbei. Die Gr??eren sprangen hinüber, am liebsten auf der Seite, wo der Graben neben dem Weg zum Friedhof lief; und drüben warfen sie einander gegen den wackligen Zaun der Villa Klinkorum. Brach ein Brett heraus, dann rasch hinein und ?pfel holen. Der Besitzer h?rte mit Zorn und Entsetzen das Knacken der Zweige, die sie mitrissen, aber auf seinen steifen Beinen kam er immer zu sp?t, sie waren schon drau?en und zeigten ihm aus einiger Entfernung das unreife Obst, es sei auf der Stra?e gelegen. Dann hielt er ihnen eine Rede über das Eigentum und die Bildung, immer dieselbe Rede, denn niemals merkte er, da? er es mit denselben Jungen zu tun hatte. Klinkorum war Schullehrer gewesen, aber einer für die Reichen; und weil ihm schon die Z?hne ausgefallen waren, wollte er nun hier sich mausig machen. Kaum war er fort, polterten alle gegen seinen Zaun, und irgendeiner kroch hinein und setzte ihm etwas auf den Gartenweg. Der alte Malermeister, der unten im Haus wohnte, durfte es sehen, er lachte, wenn er auch schalt. Nur den kleinen M?dchen war es von ihren Müttern streng verboten, ihm zu nahe zu kommen.

Dies war nicht alles, was Professor Klinkorum zu erdulden hatte. Kehrte er aus der Stadt heim, zuweilen schon ganz nahe bei seinem Grundstück überholte ihn, wie er auch hastete, das He?lingsche Automobil und bedeckte ihn mit Staub oder Schmutz. Generaldirektor Geheimer Kommerzienrat Dr. He?ling in seinem Staubmantel blickte unerbittlich geradeaus, und Klinkorum, von au?en gegen seinen eigenen Zaun gedr?ngt, ?ugte mit ohnm?chtigem Ha?, bis er, ganz in einer stinkenden Wolke befangen, die Augen schlo?. Innerlich hielt er in solchen Minuten seine zweite Rede über das Eigentum, die Rede dagegen, - wenn es n?mlich schrankenlos und überheblich war. Die Bildung war das Erste und mu?te es bleiben.

Damit ging er hinauf in sein Studierzimmer. Von hier übersah er ganz Gausenfeld, hinter den Arbeiterh?usern das wüste Gel?nde, bis zum Wald, bis zur Fabrik. Es ward Nacht, an der Friedhofsmauer die Lampe leuchtete nahe, und weit dorthinten die gereihten Lichter der Fabrik.

Aus der Fabrik kehrten die Arbeiter heim; ihr Massenschritt dr?hnte, von ferne fühlbar, bis in das Studierzimmer; und Klinkorum dachte nicht ohne Achtung an den Herrn der Massen, ihn, He?ling, Besitzer Gausenfelds, gro?en Reichtums und mancher Würden. Wie hatte er es dahin gebracht, als Chemiker und Papierfabrikant? Durch Machenschaften und Kunstgriffe gesch?ftlicher wie politischer Art, über die es auch nach sechzehn Jahren in der Stadt noch nicht still war. Der selbstgemachte Mann freilich blieb zu achten. Er wieder aber achte noch h?here Rechte! Klinkorum hatte gespart, bis er weit drau?en an der Landstra?e dies einsame kleine Haus erstehen konnte, die Freude seines letzten Lebensdrittels. Gepflegt und lauschig, ein Sitz der Muse, ruhte es im Grünen, unaufgest?rt von Weihelosen; denn nur langsame Bauernwagen zogen, mit Ochsen, breitstirnigen, schwerausschreitenden bespannt, vorüber, und Gausenfeld, das einzige gr??ere Anwesen in der Weite, diese St?tte der Papierfabrikation lag jenseits von Feldern und Wald, man sah, h?rte und roch sie nicht. Da aber, was geschah? Der neue Herr von Gausenfeld vergr??erte seine Fabrikanlagen. Er legte den Wald so weit nieder, als er jene unedlen Baulichkeiten dem Blick entzogen hatte. Die Arbeiter-Familienh?user wuchsen über das Feld heran, immer nach Westen, immer auf Klinkorum zu. Auch kam es dahin, da? gleich hinter seinem Zaun dies Volk sich begraben lie?. Und dem Friedhof, als vorletztem Streich, folgten die Kasernen der Proletarier, Ungeheuer von H?usern, hinschattend über Klinkorum und seinen bescheidenen Ruhesitz, ihn mit Gerüchen bedr?ngend, in Ru? verschüttend so Garten wie Haus und um es her eine Zone breitend des Gestampfes, Geschreis, Totschlages und der bildungsfeindlichen Roheit!

Nun waren die Lichter ausgel?scht in der Fabrik und entzündet in den Kasernen, in der Kantine an ihrem Flügel. Dorther kam L?rm. Der Arbeiter Karl Balrich aber, still in seinem Zimmer 101 des Arbeiterhauses B, stand am Fenster, sah vor sich dasselbe wie der Besitzer der Villa Klinkorum und dachte nach, auch er, über die Welt, die ihn umgab. Freilich, die vielen Ger?usche des Hauses selbst, von rechts, links, oben, unten übert?nten bei weitem seine Gedanken an das Fernere. Er h?rte um sich her, des Sonntags wenn er ruhte und jetzt am Abend bevor er schlief, Streit, Küsse, Gespr?che über Geld und Essen, die Prügel für die Kinder, h?rte durch das hallende und zitternde Haus alles was vorging, was das Leben der Menschen war und was es schon nicht mehr war: ihr letztes Wimmern, ihr Abschiedsgest?hn. Aber ?fter als Sterben h?rte er Geb?ren. Er sagte sich dann, je nachdem ihm an dem Abend zu Sinn war: ?Wieder ein Mann für die Arbeiterbataillone" oder: ?He?ling kann lachen; wieder ein Dummer."

Denn der Arbeiter Balrich sah, wie die Dinge lagen, in der Person des Generaldirektors He?ling den h?chsten Zweck und das letzte Ergebnis des ihn umgebenden Lebens, aller dieser Mühen, Aufregungen und Schmerzen - und nicht nur dieser hier. Von Gausenfeld zu schweigen, die Stadt, wie sie war, arbeitete für den Reichen und fristete sich nur durch ihn. Das Land selbst drehte sich wahrscheinlich nur um seinesgleichen. Ihm zuliebe das Milit?r; und der K?nig sogar eigentlich sein Narr. Den hielt er sich aus, er aber verdiente. Auf das Geld kam es an.

?Wenn es auf das Geld ank?me," sagte an seinem Fenster der Professor, ?dann würde dieser He?ling mit Recht die Umst?nde meines Lebens auf jene Stufe hinabdrücken, wo seine Lohnsklaven schmachten, - indes er selbst -." Hinter dem Wald wohnte er selbst. über dem von ihm bebauten Tal der Armut und des Unrates, aber bewahrt vor seinem Duft und Anblick hinter eigenem Wald auf grünem Hügel, in seiner hellen und blumenumleuchteten ?Villa H?he" hauste leichten Herzens mit den hochgemuten Seinen der Eigentümer, Anstifter und Nutznie?er dieser ganzen sozialen Schmutzerei. Das Wort fiel. Zwei Freunde traten ein bei Klinkorum, und sowohl der Arzt Dr. Heuteufel wie der Konsistorialrat Zillich wiederholten das Wort. Je h?her die Bildung, um so entwickelter der soziale Sinn - und mit ihm das Feingefühl für die Herausforderungen des Kapitals, dies Hinbreiten des ausschweifendsten Luxus gleich neben dem Schauspiel des Elends, dieses Autojagen an den Enterbten vorbei, dies Hupengeheul.

Die Schwester des Arbeiters Balrich bekam droben von Dinkl, ihrem Mann, eine Ohrfeige, die bis her schallte, und sie selbst hieb die Kinder. Als alle genug geschrien und die Nachbarn genug gelacht hatten, machte sie sich pl?rrend an das Nachtgebet. Karl Balrich dachte noch immer: ?Auf das Geld kommt es an." Da zog links drunten der Herbesd?rfer, seine Harmonika lang aus, und Balrich merkte es nun, da? er mit dem Denken nicht vorw?rts kam. Schwer war es, von dem wirklichen Gang der Welt, ihren Zusammenh?ngen und Gesetzen etwas Deutliches zu erfahren. Die Redner in den Versammlungen redeten von weit her; um sie anders zu verstehen als blo? mit unserem Ha?gefühl, mu?ten wir uns bis dahin durchschlagen, wo sie zumeist von Geburt schon standen. Und wie jetzt noch zu so viel Bildung kommen?

Die Herren im Studierzimmer murrten: ?Den Bau der elektrischen Bahn nach Gausenfeld hat er hintertrieben. Er scheut den Verkehr der Welt mit seinem Jammertal, er wünscht keine Einblicke und ist gegen einen h?ufig wiederholten Besuch seiner Leute in der Stadt, bei ihren Genossen, auf den Versammlungen. Am Sonntag will er sie in seine Kantine zwingen. Wie in einem Ghetto sollen sie sich fortpflanzen und nichts von allem was sie sind und leisten, ihm verlorengehen. Die Folgen ermesse man! Was mich betrifft, ist es mir bekannt, da? die Gausenfelder K?rperverletzungen um viele Prozent unsere sonstigen übersteigen. Niemand wundere sich, wenn ich, Klinkorum, eines Morgens in einer Blutlache aufgefunden werde! W?re ich nicht der Ordnungsmann, der ich bin, ich wü?te die Stelle zu finden, wo die ?ffentlichkeit sich packen lie?e." - Ja, die murrenden Gebildeten warfen bei einer neuen Flasche Wein sogar die Frage auf, ob ein Mann von mittlerem Einkommen, aber einer gewissen geistigen H?he, mit seinem Glück und Dasein denn wirklich gebunden sei an den Bestand der jetzigen Dinge. Als die Flasche leer war, sahen sie das Schlimmste voraus, eine Katastrophe, ein Weltenende. ?Ich sehe es," rief Klinkorum, vom Geist berührt. ?Ich sehe, da? einer aufstehen wird und mich r?chen!" - wobei er sich fester in die Ecke setzte.

Der Arbeiter sagte, drüben im Hofzimmer, seinen beiden jungen Brüdern gute Nacht; und bevor er sein Fenster schlo?, stand er dann im Wind, quer über die breite Stirn liefen ihm die zusammengewachsenen Brauen, er machte F?uste, stemmte die Schultern hinauf, als h?be er eine Last, - und dachte mühselig weiter, tastete sich im Dunkeln ein Stück an seinem Schicksal hin, wie es denn aussehe, wohin es denn verlaufe mit den anderen in der Welt. Ihm schien es dunkel und windig, wie das ?de Feld, auf das er hinaussah und das endete mit dem Friedhof. Zwischen sich und dem Friedhof fand er nichts als Ungerechtigkeit und Ha?.

Beim Abschied lenkten die Studierten ein. Die reichen Leute hatten natürlich ihre unerme?liche soziale Nützlichkeit. Und nach au?en verbürgten sie unser Ansehen, unsere Schlagkraft, die Erweiterung unserer Grenzen. übrigens waren nicht alle reichen Leute wie He?ling, - und selbst He?ling, war seine Tüchtigkeit denn zu verachten? Im Gegenteil zog ganz Netzig Nutzen aus ihr. Die wenigen Gausenfelder Aktien, die er damals bei seiner gro?en Operation, als er Generaldirektor wurde, in fremden H?nden gelassen hatte, waren seltene Kostbarkeiten geworden, sie vererbten sich vom Vater auf den Sohn. Jeder der drei Herren vermutete von den anderen, da? sie welche h?tten, und da sie es nicht gestanden, gestand auch er es nicht. Beim Abschied fragte jeder, mit unbeteiligtem Gehaben: ?Wie stehen sie denn jetzt?"

Der Ha?! fühlte der Arbeiter Balrich. Mit ihm gehst du schlafen und stehst wieder auf mit ihm. Vor sechs, den Rockkragen hinauf und los, den fr?stelnden grauen Weg nach der Fabrik, zu Hunderten schweigend und trabend, Trab hinter sich, vor sich, in sich, Trab wie Maschinenlauf. Alle verschrieben der Ungerechtigkeit, alle unter dem unabl?ssigen Druck des Hasses, gewohnt wie schlechte Luft und L?rm von Maschinen. Und dabei, welcher war der ?rgere Feind? He?ling, für den man sich krumm rackerte, oder dieser Simon Jauner, der es auch tat, - aber seit heute stand er bei der Papiermaschine am Platze Balrichs, unten, wo die fertigen Bogen ankamen und wo man von der Tür her Luft hatte. Den besten Platz hergeben müssen, an einen, der früher einmal etwas gehabt hatte mit der Frau des Maschinenmeisters Polster! Noch dazu war sie die Schwester seines Schwagers Dinkl. Balrich schwitzte den ganzen Morgen mehr von Wut als von der Hitze. Als aber der Inspektor vorüberkam und ihn fragte wieso, bi? er die Z?hne zusammen. Das war unsere Sache und nichts für die Herren oben! Der Inspektor freilich wu?te Bescheid, denn mit der Frau des Maschinenmeisters hatte er jetzt selbst etwas. Daher meldete er sich auch bei dem Herrn Oberinspektor, und beide gingen, als es Mittag l?utete, sogar zum Generaldirektor hinein. Dann ward der Maschinenmeister hineingerufen und kam sogleich wieder herausgeflogen, der dicke Hahnrei, rot bis auf die Glatze. Und dann hatte Balrich seinen Platz zurück, He?ling war gerecht gewesen.

Darüber sprachen alle auf dem Weg zum Essen. Kam ein Beamter vorbei, sagten manche recht laut, He?ling sei gerecht gewesen, - auch Jauner sagte es, denn so war er. Balrich, an den sich viele von ihnen heranmachten heute, dachte den ganzen Tag über die Sache nach, denn He?ling war gerecht gewesen, und das ging nicht. Erst am Abend, vor seinem Fenster, hatte er es. Gewi? hatte auch He?ling von den Liebesgeschichten der Polster etwas erfahren und ihm lag nur an der Ordnung, seinem eigenen Vorteil. Um so schlimmer, dann konnte er gerecht sein, weil es sein Vorteil war, und die Reichen wurden reicher sogar durch ihre Tugend . . . . So stand es, dachte er gleich am Morgen wieder, denn es war Sonntag. Da begann aber schon, droben in der Ferne, das Gebetpl?rren seiner Schwester Malli, und kaum da? es aus war, ein gro?es Gekeif.

Diesmal h?rte er auch Leni, seine jüngere Schwester, mitschreien, weshalb er schnell hinging um nachzusehen. Es gab einen ganzen Kübel voll Dreck. Malli wollte Dinkl ertappt haben bei Leni hinter dem Bretterverschlag; und hinweg über ihren gro?en Bauch, woran drei Kinder sich festhielten, schrie sie ihm zu, er solle sich nichts einbilden, er sei nicht der einzige, - indes Leni aufheulte und Dinkl aus Verlegenheit seine komischen Gesichter schnitt.

?Sch?m' dich!" sagte Balrich zu der verheirateten Schwester. ?Ich wei? ganz genau, da? das wieder nur ein Schwindel von dir ist." Und er zog Leni an seine Schulter. Denn obwohl er gar nichts wu?te, war es unm?glich, da? sie so etwas tat. Er hatte sie lieb. Er hatte sie so viel lieber als Malli, da? er ein schlechtes Gewissen fühlte und nichts mehr sagen mochte. Leni durfte noch hübsch, leicht und sauber sein, Malli, die ?rmste, ward es nie wieder. ?Und ich, wenn ich erst verheiratet bin, werde aussehen wie Dinkl." Malli hatte früher nicht gelogen. Jetzt ward nach dem Aufstehen gebetet, und dann sofort eine Klatschgeschichte, die das ganze Haus durcheinander brachte. Alle hier waren gute Leute, und handelten infolge ihrer Armut als seien sie b?se Leute, - indes Reiche, die nicht gut waren, sogar gerecht sein durften.

Sch?n, jetzt trat die Polster auf und behauptete, Dinkls h?tten ihr Milch gestohlen. Neuer Krach, neue Tr?nen, und durch die Aufregung kamen bei Malli die Wehen. Die Polster half ihr sofort wie eine wahre Schwester, zog sie aus, bettete sie, versprach ihrem Bruder Dinkl sein Essen und nahm die drei Kinder mit sich. Sie selbst hatte keine, darum konnten Polsters sich zwei sch?ne Zimmer halten. In dem einen standen Plüschm?bel, Blattpflanzen und ein Phonograph, es kam wohl auch von den Freundschaften der Frau. Aber wenn man das h?tte genau nehmen wollen! Dinkl hatte noch die besondere Freude, da? das Familienereignis auf den Sonntag fiel und Malli voraussichtlich nicht mehr als zwei Arbeitstage verlor. Nachmittags, gerade als Balrich wieder nachfragte, kam hoher Besuch, Frau Generaldirektor He?ling und ihre Schw?gerin Buck. In der Tür blieben sie stehen, sie machten Gesichter, als ob es ihnen an die Gurgel ginge. Wahrscheinlich wirkte die Luft hier so, wenn du sie nicht gew?hnt warst. Sie aber schienen sich deswegen zu genieren und fingen an, auf Malli einzureden wie auf einen kranken Kanarienvogel. Mit der Hebamme flüsterten sie und zogen die Brauen hoch. Balrich sah sich so lange und genau die Buck an, bis die He?ling es merkte und halblaut: ?Emmi!" rief, wobei sie sie streng am Arm packte. Dabei lie? die Buck ihre Tasche fallen und Balrich, mit einem Sprung, hob sie auf. Als er sie ihr hinhielt, zog sie zuerst die Hand zurück, dann erst unter dem Blick ihrer Schw?gerin griff sie zu. Inzwischen beroch er sie, denn sie roch nach Veilchen. Sie war noch hübsch, die Figur war, wie unsere M?dchen sie nur bis zwanzig haben. Auch Leni hatte so goldblondes Haar, aber das der Buck war nicht verstaubt. Endlich, w?hrend sie die Tasche nahm, sah sie ihn sogar an und l?chelte, etwas schüchtern und sozusagen bes?nftigend. Vor seinen zusammengewachsenen Brauen machte ihr L?cheln aber sogleich kehrt. Darauf trat Balrich hinter den Bretterverschlag Lenis.

Dinkl kam zu ihm, stie? ihn in die Seite und wisperte, warum er sich verkrieche. Die eine sei scharf auf ihn, da habe er einen sch?nen Posten in Aussicht. Dinkl machte Witze, weil es ihn nichts anging. Balrich, den es anging, hatte ein Gefühl in der Brust, wie er es einmal gehabt hatte, als er entlassen worden war. Die Buck hatte ihn behandelt wie ein Tier, - man fürchtet es und nimmt es doch nicht ernst; nicht aber wie einen Mann.

Nun gingen sie, Dinkl, scharwenzelnd, brachte sie hinaus, da geschah ein Unglück. Aus seinem tiefen Bückling war Dinkl noch nicht wieder aufgekommen, als sie es schon hatten und auf der Treppe lagen, die He?ling verlor den Hut samt der H?lfte ihrer wei?en Haare. über dem Gel?nder hoch droben w?lzten die Dinklschen Kinder sich vor Lachen, - worauf der Vater zu begreifen anfing. Mit geschwungener Faust verjagte er die Kinder und half dann den Damen. Zum Glück nahte von unten der Herbesd?rfer, so brachte man sie bald wieder auf die Fü?e. ?Mein Gott, was war denn das!" riefen sie, auf einmal mit ungezwungenen Stimmen. ?Ist hier auf den Stufen nicht Seife?" Dinkl wollte es leugnen oder unbegreiflich finden, Herbesd?rfer erhob seine eingerostete Stimme nur zu einem ?Achtung!" und breitete die starken Arme aus, für alle F?lle. Sie aber baten die beiden Arbeiter, nachzusehen, wie es rückw?rts um sie stehe, und als Dinkl durchaus keine Seife an ihnen fand, fanden sie selbst sie.

?Was jetzt! Wir müssen doch zum Tee in die Stadt. Noch einmal nach Hause und uns umkleiden?"

Dinkl riet hierzu, sie wieder meinten: ?Das kostet eine halbe Stunde, und was sagt die Generalin!"

Angelegentlich wandten sie sich an Herbesd?rfer, um auch seine Ansicht zu erfahren, freilich ohne Erfolg, er machte ein barsches Gesicht. Die Polster kam herzu, schlug die H?nde zusammen und erbot sich, von den Kleidern alles abzuwaschen, - worauf eine technische Verhandlung folgte. Sie blieb ohne Ergebnis; so drang Dinkl durch, mit seinem Hinweis auf die besondere Leistungsf?higkeit des He?lingschen Autos.

?Das mu? wahr sein," sagte Frau Generaldirektor He?ling, ?es ist ein Charron."

Dinkl gab zu bedenken, ob nicht die deutsche Industrie den Vorzug verdiene, selbst wenn sie nicht ganz so leistungsf?hig sein sollte. Ernste Meinungsverschiedenheiten erwuchsen hieraus nicht, unter dem Entgegenkommen beider Teile setzte die Unterhaltung sich fort bis vor das Haus. Erst beim Anblick ihres Chauffeurs ging durch die Damen ein sichtbarer Ruck, und als sie gar im Auto sa?en, erwiderten sie den Gru? der Arbeiter nur noch aus den Augenwinkeln, ohne den Kopf zu rühren.

Dinkl fand sich damit ab, er stand, als das Auto fort war, und lachte, da? sein Gerüst wackelte. Die Kinder, die nachgeschlichen waren, bekamen vom Vater ihre Ohrfeigen, aber er lachte dabei, und alle mit, die Polster samt den Nachbarinnen.

Als die Bande wieder hinaufstürmte, würde sie den Karl Balrich überrannt haben. Er stand auf dem Treppenabsatz und schien vertieft in den Seifenfleck. Er machte ihnen Platz, lachte aber nicht wie sie, sondern faltete die Brauen . . . Sein Schwager klopfte ihn auf die Schulter und nahm ihn mit in die Kantine; der Malli seien sie doch blo? l?stig in ihrem Betrieb.

Die Kantine war voll, von allen Tischen wurden Fragen geschrien wegen des hohen Besuches und der Seife. Der Vorfall mit der Seife besch?ftigte alle. Seife war das Stichwort für Witze, die sich alle ?hnlich sahen, und jeder erregte das gleiche Gebrüll.

Zu Balrich, Dinkl und Herbesd?rfer setzte sich stumm der alte Malermeister, der seit kurzem im Keller bei Klinkorum wohnte. Er war umhergezogen und hatte sich eben durchgeschlagen, ein unruhiger Taugenichts, bis er es gut fand, seine altgewordenen Knochen an den Ort zu tragen, wo er Heimatsrecht und Verwandte hatte. Er und Balrich sagten nichts, - bis Herbesd?rfer sie etwas fragte. Er hatte eine Aussprache wie ein Wilder und ?u?erte sich so angestrengt, als verlernte er das Sprechen von Tag zu Tag. Er fragte: was den reichen Weibern denn einfalle, da? sie ungebeten eine Arbeiterin in den Wehen zu begaffen k?men, wie eine Kuh. Dinkl stie? ihn heimlich an, und unter dem Tisch zeigte er ihm das Zwanzigmarkstück, das die Besucherinnen dagelassen hatten. Laut sagte er: ?Sie haben Langeweile gehabt. Das Teewasser bei der Generalin hat noch nicht gekocht."

Balrich inzwischen atmete schneller. Er war im Begriff, sich aufzurichten und zu bekennen, da? auch die Reichen ein Herz haben k?nnten! Denn vor sich hatte er das schüchterne L?cheln der Emmi Buck, und mitten in dem Qualm hier berührte ihn ihr Veilchengeruch. Da sah der alte Maler ihn an mit seinem Grinsen im Bocksbart und nahm ihm das Wort weg.

?Ich wei? Bescheid, - seit ich ein reiches Luder habe laufen gesehen, weil eine Arbeiterin mit dem Arm in der Maschine hing. Sie hatte vorgesorgt, da? ihr so etwas gleich gemeldet werde."

?Das hast du selbst gesehen, Onkel Gellert?" fragte Balrich drohend. Denn er dachte an die kleinen M?dchen, die der Alte an sich lockte.

?Ich selbst, - und die Arbeiterin war sp?ter meine Frau, deine Gro?tante."

?Ja, dann," murmelte Balrich und sah den Tisch an. ?Nicht hinsehen wo Geld ist, das ist das beste." Und innerlich bat er es seiner Schwester Leni ab, da? er ihr, fast eine Stunde lang, die Reiche vorgezogen hatte.

Simon Jauner schlich herbei; was Balrich ganz leise sprach, hatte er doch geh?rt; und er schlug auf den Tisch, als habe er Wut. Ansehen das Geld, sei zwecklos. Aber so! Und mit krummen Fingern grapste er über den Tisch hin. Balrich, der ihn kannte, sagte gelassen: ?Ich esse lieber mein selbstverdientes Brot," - und schnitt aus seinem Brot einen Würfel. Da lie? Jauner sich in die Bank gleiten, grade neben Balrich. Nun er Balrich von seinem Platz an der Maschine nicht hatte verdr?ngen k?nnen, fand er es wohl geraten, sich anzun?hern. Er fa?te sogar treuherzig den Arm des andern und sagte eindringlich:

?Dein Brot? He?lingsches Brot, willst du sagen! Denn in seiner Fabrik verdienst du nur gerade so viel, da? du in seiner Kaserne wohnen und in seiner Kantine essen kannst. Was darüber ist, ist vom übel," schlo? er h?misch, und zeigte zuerst Balrich, dann den anderen seine gelben Z?hne und seine gelben Augen. Sie wu?ten wohl, sie würden kein Wort sprechen, das der Inspektor nicht erführe; denn er hatte dem Jauner geschadet, wer mu?te also beflissener gegen ihn sein als Jauner. Dennoch hielten sie nicht an sich. Kantine und Kaserne, zu wahr, brachten dem He?ling mit Zins wieder zurück, was er ihnen zahlte. Der Strom des Geldes rollte endlos unweigerlich in die eine Tasche, sie aber mit ihren Schwielen standen lechzend daneben, sie, ihre Frauen, ihre Kinder. Sie machten ihre Kinder für He?ling, wie sie für He?ling die Ware machten, wie sie für He?ling a?en und tranken. ?Prost Ha?ling!" rief Dinkl, und an allen Tischen riefen sie mit; denn gut war es, den Ha? in ein Wort zu fassen, den Ha? einmal deutlich aus den Z?hnen zu lassen und bitter im Glas zu schmecken. Man ging mit ihm schlafen und stand auf mit ihm, - nur Gestalt fehlte ihm, F?uste hatte er nicht. Wir haben jeden Augenblick, jeden von allen, die wir erleben, alles im Bewu?tsein: die ungerechte Gewalt, unter der wir stehen, benachteiligt auf Schritt und Tritt, beim Einatmen und beim Ausatmen, mi?braucht, verachtet, hinter das Licht geführt. Ihr bildet euch ein, wir verg??en? Jawohl, ihr denkt, wir riechen unsere schlechte Luft nicht mehr, in den überfüllten Stuben der Kasernen, die ihr uns baut. Arbeiterh?user A und B, das hei?t nicht arbeite und bete, wie der Konsistorialrat Zillich bei der Einweihung erz?hlt hatte; es hei?t Affenbude oder alles be-. Wir riechen, und wir vergessen nicht. Sehr begreiflich, bemerkte Balrich, da? den Damen He?ling und Buck, wie sie eintraten, der Gestank an die Gurgel ging, und komisch blo?, da? sie sich deshalb zu genieren schienen. ?H?tten wir sie in der Gewalt, wie sie uns haben, wir würden nicht so viele Umst?nde machen!" Dinkl und Jauner erkl?rten auf das deutlichste, was sie mit den reichen Weibern heute gemacht haben würden, trotz den wei?en Haaren der einen. Einen Laut aber, der Schlimmeres verhie?, stie? Herbesd?rfer aus. In seinem ger?teten Kopf war die Kartoffelnase wei? wie der nackte plumpe Hals, und die Augen hinter den runden Brillengl?sern starrten blind, als h?tte er Gesichte.

Dinkl inzwischen war in die Mitte getreten, schob die Daumen in die Achsell?cher seines gelbkarierten R?ckchens und machte vor, wie er spazierengehe. Ein feiner Fatzke begegnete ihm. Den feinen Fatzke mu?te Jauner machen; er nahm sein steifes Hütchen vom Rechen und drückte die Beulen heraus. Bei ihm angelangt, schleuderte Dinkl ihm die Faust bis nahe unter das Kinn, wobei Jauner überm??ig erschrak. Dinkl aber tat, als habe er nur die Zigarette an den Mund führen wollen. Alle l?rmten Beifall. So war es! Jeden Reichen konnte man mit einem Finger erschrecken, da? er in Ohnmacht fiel, denn sie schliefen immer. Sie gingen in den Stra?en und merkten nicht, wie sie unter uns Arbeitern vereinsamt waren - blo? noch die Polizei war da -, und wie ihre Pelzm?ntel sich verloren zwischen den vielen geflickten Sommerjacken. Sie merken nichts, sie schlafen. Nie, denken sie, kommt es anders. Denn sie sind es gew?hnt, sie hatten es leichter als wir, sich zu gew?hnen.

Hier war Herbesd?rfer fertig mit seinen Vorbereitungen, auszusprechen, was er sah. Er zeigte seine riesigen H?nde her, ein Finger war wei? verbunden, - ?ffnete und schlo? sie, da? sie knackten, und sagte mühsam vor Kraft:

?Das Ganze kommt anders!"

Balrich, gegenüber, h?rte ihm achtungsvoll zu. Dadurch entging es ihm fast, da? der alte Gellert ihn leise in die Seite stie? und ihm etwas anvertraute. Er schien es lange in sich unterdrückt zu haben, und nur die gesteigerte Stimmung der Umgebung bewirkte es, da? sein letzter alter Zahn sich aufhob und etwas herauslie?.

?L?ngst schon k?nnte es anders sein," wisperte er. ?Auch umgekehrt w?r' ein Schuh geworden. Hab' ich He?ling mit gegründet, was fehlt dann viel, und ich w?re, was er ist."

Sein Gro?neffe sah ihn an; der Alte kniff die Lippen und machte sich klein, als habe er nichts gesagt. Balrich stutzte kurz; schon zuckte er die Achseln, Geschw?tz ohne Kraft war nicht achtbar.

Auch kamen eben jetzt die Genossen auf die Partei zu sprechen. Die Partei war mit nichten einwandfrei, sie enthielt Elemente, die mehr an sich dachten, als an die arbeitende Klasse. Jauner, als der Mi?vergnügteste, kennzeichnete den Genossen Napoleon Fischer, unseren Abgeordneten, der Gesch?fte gemacht hatte, aber bessere für sich als für uns. Er stand gut mit He?ling und wu?te auch der Regierung nichts mehr abzuschlagen. Was bekam er für die Unmenge Milit?r, die er bewilligte? Wieder eine Versicherung, wieder eine Fürsorge. Und hatte doch gearbeitet, sogar bei He?ling. Was hoffen von den anderen, mit den weichen H?nden.

Dies war wohl richtig; dennoch wagte sich der Beifall viel weniger entschieden heraus, als vorhin, gegen Arbeitgeber und besitzende Klasse. Hiermit war nicht zu spa?en, und was Jauner dem Parteibeamten wieder erz?hlte, konnte dir schlechter bekommen als sein Bericht an den He?lingschen Herrn Oberinspektor. Soviel lie? sich wohl sagen, da? die Versicherungen und Fürsorgen ihre zwei guten Seiten hatten, eine für uns und eine für die Reichen, denen sie zu einem besseren Schlaf verhalfen. Dinkl, als der Unvorsichtigste, ging weiter und behauptete, das zweite sei die Hauptsache, und der alte Arbeiter, der von dem Pensionsplunder leben k?nne, sei noch nicht geboren.

?Mein eigener Vater, wie oft ich ihm ins Gewissen rede, vor Mittag, wenn wir M?nner noch nicht aus der Fabrik zurück sind, geht er mit seiner E?schüssel bei den Nachbarinnen umher."

Hierzu war der Alte gen?tigt, weil seine Kinder ihm das Geld seiner Altersversorgung abnahmen und ihm nicht satt dafür zu essen gaben. Dies wu?te man; aber welcher Vorwurf traf einen Kameraden, der Frau und vier Kinder hindurchbrachte. Besser, es hungerte ein Alter.

Herbesd?rfer, l?ngst nicht mehr wild, hatte ein von der Furcht zusammengezogenes Gesicht und jammerte in rauhen Lauten vor sich hin. Er beklagte sich über den Kassenarzt, der ihn schon wieder zur Arbeit schickte, obwohl er im Knie seit seinem Unfall noch immer eine Schw?che hatte. Er hatte die Schw?che nicht, wenn er drau?en umherging; aber kaum in der Fabrik, hatte er sie; und die Furcht, hineinzufallen zwischen die Mühlr?der und zermahlen zu werden mit dem Holzstoff, machte ihm Schwindel.

?Das kenne ich," sagten sie an den anderen Tischen. Denn sie kannten es.

?Man hat doch nur seine Gliedma?en. Frau und Kinder haben nur meine Gliedma?en. So ein Doktor tut immer, als wachsen sie nach."

?Der w?chst nicht nach!" schnaubte dort hinten einer, und reckte in den Schein der Lampe seine Hand, der ein Finger fehlte. Da hob auch Herbesd?rfer, rauh winselnd, seinen verbundenen Finger zum Licht hinauf; und über zwei Tische, und dann nebenan, und dann an jedem kamen Finger ans Licht, dick umwickelt und wei? inmitten einer Hand, die dunkel befleckt war von den unverg?nglichen Spuren der Arbeit. Wie alle diese verbundenen Wunden durch die Luft geschwenkt wurden, roch man auf einmal deutlich den dünnen scharfen Geruch, der unter den Ausdünstungen der K?rper und dem Tabaksqualm, halbvergessen immer da war, den Geruch des Karbols.

Auch Karl Balrich sah einen seiner Finger in Leinen gewickelt, er prüfte ihn, die Brauen gefaltet, unter dem Tisch. Jeder in diesem Augenblick hatte ein Gesicht, das den allertiefsten Ernst des Lebens trug. Da, in einer Stille, sagte Balrich:

?Das hat seine Zeit, und dann kommt die Gerechtigkeit."

?So ist es!" sagten sie, und ein Geschwirr entstand, aus leisen Zustimmungen, den halben Lauten der Gl?ubigkeit. Auf dem Wege sind wir, zur Gerechtigkeit, - und s?hest du t?glich mehr, da? er lang, ist, gez?hlt sind die Tage der Reichen. Wir werden, mit dem was jetzt sie uns kosten, selbst reich sein, alle; werden in gelüfteten S?len gemeinsam unser gutes Essen haben, und Maschinen, die uns geh?ren, arbeiten für uns. Mit jenen aber wird es aus sein. W?re dem anders, warum s?uft man nicht, oder bricht ein.

Das tun wir nicht, weil wir vernünftiger sind als sie. Wir k?nnen frei aufatmen, so, ganz frei, mitten in unserer Stickluft, denn bei uns sind Vernunft und Zukunft. Ihr dort seid erblindet durch den Besitz, ihr wi?t nicht einmal mehr, was ihr in H?nden habt. Wer unter euch sch?tzt das Wissen, den Geist, gleich uns? Ihr habt ihn vergessen, in eurem Fett. Wir, wir begreifen, da? er es ist, der die Welt erobert, und da? er auch wieder ihr Ziel ist. Jede Bibliothek, die wir zusammenbringen oder abringen eurem Geiz, ist ein Wegmal für unsere Heraufkunft und euren Untergang.

Dinkl, mit einem Luftsprung von seinem Sitz auf, rief aus:

?Nichts freut mich, wie die hunderttausend Mark, die ihn die Bibliothek kostet!"

Und alle frohlockten über diese Niederlage des Generaldirektors. K?mpfe freilich kostete noch die Verwaltung der Bibliothek, denn satzungsgem?? stimmten auch Beamte beim Ankauf der Bücher, und verhinderten, soviel sie konnten, die Aufnahme der Parteischriften. Herbesd?rfer schmunzelte, tief befriedigt. Seit gestern hatte er, sicher verschlossen in seinem Zimmer, ?das Kapital".

Da betrachtete Balrich ihn, sein armes grobes Gesicht, das verriegelt aussah und hinter seiner gro?en Brille immer in Anstrengung und Angst schien, ob es nicht endlich sich ?ffnen, klarsehen und begreifen werde, sein tapferes, vergeblich ringendes Gesicht.

?So steht es um uns," fühlte Balrich. ?Wir sind zu schwach, obwohl wir die St?rkeren scheinen. Die Bücher, mit denen Ausbeutung und Elend zu besiegen w?ren, liegen in unserer Lade, wir aber sitzen hier, verbraucht vom Knechtstum der ganzen Woche und ohne Handhabe, um unsere Waffen nutzen zu lernen. Kommt dennoch einer von uns dahin, die wissenschaftlichen Werke zu erfassen, seinen Kindern kann er es darum nicht leichter machen. Wir bleiben, wo wir sind. Trachten wir das Glück zu genie?en, das Armut uns erlaubt!"

Hier erinnerte er sich, da? ein M?dchen auf ihn wartete - sein M?dchen, wenn er wollte. Aber wollte er, und mu?te es diese sein? Er stieg aus der Bank ohne Eile, trat noch an den Tisch drüben, h?tte sich fast daran niedergelassen, - und als er dann hinausgelangte, stand dort hinten unter der Friedhofmauer schon das M?dchen. Sie stand in ihrem braunen Tuch ein wenig gebeugt, als wartete sie seit einiger Zeit, und sah ihn erst, als er schon nahe war.

?Thilde!" rief er aufmunternd, worauf sie ihm ein Gesicht zeigte, das voll Gram war. Er kam aber so mutig herbei, breit, spannkr?ftig und fest, mit dem dunkeln Schopf unter der Mütze hervor, so wohlgeraten kam er, da? sie ihm dennoch entgegenl?chelte.

?Warst du schon drinnen?" fragte er ged?mpft und wies nach der Friedhofpforte.

Sie nickte. ?Mein Kleines hat alles was es braucht. Wenn auch wir das h?tten."

?Das sollst du nicht sagen," verlangte er; und zarter: ?Gehen wir noch einmal hinein?"

Da sie den Kopf schüttelte, bestand er nicht darauf. Es machte nur traurig, und hatten sie nicht beide mehr vor als hinter sich? ?Komm fort!" sagte er bestimmt, nahm ihren Arm und ging schneller. Im Schatten der Mauer, von der Büsche hingen, dr?ngte, sie sich an ihn mit den Hüften. Sie waren breit, die Brust voll, und dazu das magere Gesicht, aus dem sie bange zu ihm aufsah.

Am Ende der Mauer pfiff sogleich der Wind. Balrich wickelte Thilde fester ein. Erst M?rz; kahl d?mmerndes Feld; und sie stapften durch Regenlachen. Rechts zwischen dürren B?umchen die Villen, genannt Arbeitervillen; aber fast nur noch Beamte wohnten darin. Als Arbeiter mu?te man sehr wohl gelitten sein. ?Der Jauner wird hereinkommen, wir nicht."

Und wegen der Pfützen bald getrennt, bald wieder beisammen, begannen sie zu rechnen. Balrich hatte seine zwei jungen Brüder, der eine noch schulpflichtig, der andere unbezahlt. Das kleine M?dchen Thildes war keine Last mehr, sagte Balrich. Nur noch ihre Mutter, zu schwach um zu arbeiten, hing an ihr. ?W?re das nicht," sagte er, im Drang sie zu schützen, ?du solltest gar nicht mehr arbeiten, du ?rmste, und ich für zwei."

Hierauf sah sie ihn an, bitter und mi?trauisch, und mit einer h?heren, sch?rferen Stimme sagte sie, da? sie nichts brauche und ihre Mutter sei ihr so wenig zur Last, wie früher das Kind. ?Du m?chtest wohl, auch sie l?ge schon drau?en!"

Da merkte Balrich, da? sie einander nicht verstanden, - und wollten einander doch lieben? Er h?tte darauf bestehen sollen, da? sie zusammen an das Grab gingen. Nun argw?hnte sie, da? er ihr das Kind verdenke, vielleicht immer es ihr verdenken werde. ?Das nicht," fühlte er. ?Das wirklich nicht. Aber sie hat ihr Leben gehabt, bevor ich da war. Sie hat einen andern gekannt, und ich glaube zwei. Nun denkt sie von mir bisweilen nicht gut."

Sie war zwanzig, so alt wie er; und auch er hatte schon zwei M?dchen gehabt. Ihm aber war nichts zurückgeblieben, er h?tte lieben k?nnen wie das erstemal. Nur, warum denn diese, die manchmal so fremd schien, als sei sie aus einem andern Land. Durch sie hindurch erblickte er pl?tzlich seine Schwester Leni, unberührt, unbeschwert und vertrauend auf das Glück. Das war sein Blut, sein Land, war die gute Zukunft. Diese hier, wie müde!

Fühlte sie denn, was er dachte? Anklagend erhob sie nochmals das Gesicht gegen ihn und sagte in einem Ton, der weh tun wollte: ?Gib acht auf deine Schwester Leni! Sie ist vor dem Kind nicht sicherer als wir anderen."

Balrich lie? sich aber nicht wehtun. Er nahm fest ihren Arm in den seinen und sagte sanft:

?Dein Kind war ein gutes und liebes Kind."

Er erlaubte ihr nicht, sich loszumachen, und am Ende gab sie nach, sank leise gegen ihn, und aus ihren geschlossenen Augen rannen Tr?nen. Langsam, in der D?mmerung und im Wind, erreichten sie den ?Arbeiterwald", der B?nke hatte. Umschlungen setzten sie sich auf eine feuchtkalte Bank, unter gro?en schwarzen ?sten ohne Bl?tter. Vor ihnen die Fabrik, und hinter den drei Reihen der Fabrikgeb?ude ging die Sonne unter, von Wolkenstreifen überzogen wie von Rauch. Sie starrten in die R?te und dachten beide, da? es gut w?re, warm zu haben. In ihrem Rücken, hinter hohen Planken, lag der ?Herrschaftswald", begann hier wild, und immer gepflegter, blumiger und geschützter gegen den Wind und gegen die b?sen, sehnsüchtigen Blicke, umgab er endlich als sü?er Garten die Villa H?he, das verbotene Paradies.

?Dort friert es keinen," sagte das M?dchen. Der Arbeiter sagte:

?Dort k?nnen sie ern?hren, wen sie lieben."

Da die Sonne fort war, der Wind k?lter blies und es anfing zu regnen, standen sie auf. Thilde wollte umkehren, Balrich aber strebte der Fabrik zu. Er wisse eine Unterkunft beim Regen. Auch Thilde sah sie wohl, es waren die Waggons, die von der Fabrik zum Bahnhof fuhren. Dort hielten sie, einer mit offener Tür. Das M?dchen str?ubte sich, hineinzusteigen.

?Weil die Lumpen darin so schlecht riechen?" fragte er. Sie antwortete:

?Was soll mir das machen. Ich stehe mein ganzes Leben in einem Lumpensaal."

Und sie lie? sich hineinhelfen.

?Es ist doch trocken hier auf den Lumpen," sagte er.

?Und sogar warm," flüsterte sie und überlie? sich seinen begehrlichen H?nden.

Da sie an seine Brust gedr?ngt im Dunkeln nach seinen Augen suchte, schlo? er sie, allein mit seinen Gedanken. Dies war das Beste was wir hatten - und machte doch alles nur schlimmer. Die Liebe war eingesetzt, damit es mehr Proletarier gebe. ?Für He?ling arbeiten wir, selbst hier, - und freilich auch für unsere Führer. He?ling und unsere Führer sind darin einig, da? wir nicht zahlreich genug sein k?nnen. Denn beide brauchen sie Menschenmaterial."

Das M?dchen sagte:

?Dies haben wir doch. Dies nimmt uns keiner. Kü?' mich, du Lieber!"

Aber sie fuhren auseinander, ein Schlag dr?hnte an der Wagenwand, und in die Tür trat ein gro?er Umri?. Der Aufseher! Er schalt auf das Gesindel, das in den sch?nen Lumpen seine Schmutzereien treibe. Als Balrich hervorkam, hielt der Beamte ihn fest und suchte ihm mit seiner Taschenlampe in das Gesicht zu leuchten. Balrich stie? ihn aber zurück, zog auch Thilde heraus, und schon liefen sie. Verfolgt von Schimpfreden liefen sie durch den Regen, jeder für sich, und wu?ten schon nicht mehr im Dunkeln, wo ist der andere. Nahe beim Friedhof erst fanden sie sich wieder. Da sah er unter der Laterne, wie durchn??t sie war, denn beim Fliehen hatte sie ihr Tuch in den H?nden des Aufsehers gelassen. Er zog sogleich seine Jacke aus und h?ngte sie um sie und sich. Ganz aufeinander geneigt gingen sie nun, ein Kleid, und man konnte deuten, ein Herz. Sie aber zitterte vor K?lte und er vor Zorn.

Die Kantine war nur noch schwach erhellt, kein Laut drang heraus, vor der Tür nur erkannten sie Simon Jauner - und bei ihm, an der Mauer, zwei Schatten, die aussahen wie Herren.

War dies nicht der Herr Oberinspektor selbst - und jener gar, o Gott! Geduckt schlichen sie vorüber, ein Kleid, ein Herz. Hinter ihnen sagte die Stimme eines Herrn:

?So gut haben es nur solche Leute."

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