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Klingsors letzter Sommer

Klingsors letzter Sommer

Hermann Hesse

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Klingsors letzter Sommer by Hermann Hesse

Chapter 1 No.1

Im Schnellzug, nach den raschen Handlungen und Aufregungen der Flucht und der Grenzüberschreitung, nach einem Wirbel von Spannungen und Ereignissen, Aufregungen und Gefahren, noch tief erstaunt darüber, da? alles gut gegangen war, sank Friedrich Klein ganz und gar in sich zusammen.

Der Zug fuhr mit seltsamer Gesch?ftigkeit - nun wo doch keine Eile mehr war - nach Süden und ri? die wenigen Reisenden eilig an Seen, Bergen, Wasserf?llen und andern Naturwundern vorüber, durch bet?ubende Tunnels und über sanft schwankende Brücken, alles fremdartig, sch?n und etwas sinnlos, Bilder aus Schulbüchern und aus Ansichtskarten, Landschaften, die man sich erinnert einmal gesehen zu haben, und die einen doch nichts angehen. Dieses war nun die Fremde, und hierher geh?rte er nun, nach Hause gab es keine Rückkehr. Das mit dem Geld war in Ordnung, es war da, er hatte es bei sich, alle die Tausenderscheine, und trug es jetzt wieder in der Brusttasche verwahrt.

Den Gedanken, da? ihm jetzt nichts mehr geschehen k?nne, da? er jenseits der Grenze und durch seinen falschen Pa? vorl?ufig vor aller Verfolgung und allem Verdacht gesichert sei, diesen angenehmen und beruhigenden Gedanken zog er zwar immer wieder hervor, voll Verlangen sich an ihm zu w?rmen und zu s?ttigen; aber dieser hübsche Gedanke war wie ein toter Vogel, dem ein Kind in die Flügel bl?st. Er lebte nicht, er tat keine Auge auf, er fiel einem wie Blei aus der Hand, er gab keine Lust, keinen Glanz, keine Freude her. Es war seltsam, es war ihm dieser Tage schon mehrmals aufgefallen: er konnte durchaus nicht denken, an was er wollte, er hatte keine Verfügung über seine Gedanken, sie liefen wie sie wollten, und sie verweilten trotz seinem Str?uben mit Vorliebe bei Vorstellungen, die ihn qu?lten. Es war, als sei sein Gehirn ein Kaleidoskop, in dem der Wechsel der Bilder von einer fremden Hand geleitet wurde. Vielleicht war es nur die lange Schlaflosigkeit und Erregung, er war ja auch schon l?ngere Zeit nerv?s. Jedenfalls war es h??lich, und wenn es nicht bald gelang, wieder etwas Ruhe und Freude zu finden, war es zum Verzweifeln.

Friedrich Klein tastete nach dem Revolver in seiner Manteltasche. Das war auch so ein Stück, dieser Revolver, das zu seiner neuen Ausrüstung und Rolle und Maske geh?rte. Wie war es im Grunde l?stig und ekelhaft, all das mit sich zu schleppen und bis in den dünnen vergifteten Schlaf hinein bei sich zu tragen, ein Verbrechen, gef?lschte Papiere, heimlich eingen?htes Geld, den Revolver, den falschen Namen. Es schmeckte so nach R?ubergeschichten, nach einer schlechten Romantik, und es pa?te alles so gar nicht zu ihm, zu Klein, dem guten Kerl. Es war l?stig und ekelhaft, und nichts von Aufatmen und Befreiung dabei, wie er es erhofft hatte.

Mein Gott, warum hatte er eigentlich das alles auf sich genommen, er, ein Mann von fast vierzig Jahren, als braver Beamter und stiller harmloser Bürger mit gelehrten Neigungen bekannt, Vater von lieben Kindern? Warum? Er fühlte: ein Trieb mu?te dagewesen sein, ein Zwang und Drang von genügender St?rke, um einen Mann wie ihn zu dem Unm?glichen zu bewegen - und erst wenn er das wu?te, wenn er diesen Zwang und Trieb kannte, wenn er wieder Ordnung in sich hatte, erst dann war etwas wie Aufatmen m?glich.

Heftig setzte er sich aufrecht, drückte die Schl?fen mit den Daumen und gab sich Mühe zu denken. Es ging schlecht, sein Kopf war wie von Glas, und ausgeh?hlt von Aufregungen. Ermüdung und Mangel an Schlaf. Aber es half nichts, er mu?te nachdenken. Er mu?te suchen, und mu?te finden, er mu?te wieder einen Mittelpunkt in sich wissen und sich selber einigerma?en kennen und verstehen. Sonst war das Leben nicht mehr zu ertragen.

Mühsam suchte er die Erinnerungen dieser Tage zusammen, wie man kleine Porzellanscherben mit einer Pinzette zusammenpickt, um den Bruch an einer alten Dose wieder zu kitten. Es waren lauter kleine Splitter, keiner hatte Zusammenhang mit den andern, keiner deutete durch Struktur und Farbe aufs ganze. Was für Erinnerungen! Er sah eine kleine blaue Schachtel, aus der er mit zitternder Hand das Amtssiegel seines Chefs herausnahm. Er sah den alten Mann an der Kasse, der ihm seinen Scheck mit braunen und blauen Banknoten ausbezahlte. Er sah eine Telephonzelle, wo er sich, w?hrend er ins Rohr sprach, mit der linken Hand gegen die Wand stemmte, um aufrecht zu bleiben. Vielmehr er sah nicht sich, er sah einen Menschen dies alles tun, einen fremden Menschen, der Klein hie? und nicht er war. Er sah diesen Menschen Briefe verbrennen, Briefe schreiben. Er sah ihn in einem Restaurant essen. Er sah ihn - nein, das war kein Fremder, das war er, das war Friedrich Klein selbst! - nachts über das Bett eines schlafenden Kindes gebückt. Nein, das war er selbst gewesen! Wie weh das tat, auch jetzt wieder in der Erinnerung! Wie weh das tat, das Gesicht des schlafenden Kindes zu sehen und seine Atemzüge zu h?ren, und zu wissen: nie mehr würde man diese lieben Augen offen sehen, nie mehr diesen kleinen Mund lachen und essen sehen, nie mehr von ihm gekü?t werden. Wie weh das tat! Warum tat jener Mensch Klein sich selber so weh?

Er gab es auf, die kleinen Scherben zusammen zu setzen. Der Zug hielt, ein fremder gro?er Bahnhof lag da, Türen schlugen, Koffer schwankten am Wagenfenster vorüber, Papierschilde blau und gelb riefen laut: Hotel Milano - Hotel Kontinental! Mu?te er darauf achten? War es wichtig? War eine Gefahr? Er schlo? die Augen und sank eine Minute lang in Bet?ubung, schreckte sofort wieder auf, ri? die Augen weit auf, spielte den Wachsamen. Wo war er? Der Bahnhof war noch da. Halt - wie hei?e ich? Zum tausendstenmal machte er die Probe. Also: Wie hei?e ich? Klein. Nein, zum Teufel! Fort mit Klein, Klein existierte nicht mehr. Er tastete nach der Brusttasche, wo der Pa? steckte.

Wie war das alles ermüdend! überhaupt - wenn man wü?te, wie wahnsinnig mühsam es ist, ein Verbrecher zu sein - -! Er ballte die H?nde vor Anstrengung. Das alles hier ging ihn ja nichts an, Hotel Milano, Bahnhof, Koffertr?ger, das alles konnte er ruhig weglassen - nein, es handelte sich um anderes, um Wichtiges. Um was?

Im Halbschlummer, der Zug fuhr schon wieder, kam er zu seinen Gedanken zurück. Es war ja so wichtig, es handelte sich ja darum, ob das Leben noch l?nger zu ertragen sein würde. Oder - war es nicht einfacher, dem ganzen ermüdenden Unsinn ein Ende zu machen? Hatte er denn nicht Gift bei sich? Das Opium? - Ach nein, er erinnerte sich, das Gift hatte er ja nicht bekommen. Aber er hatte den Revolver. Ja richtig. Sehr gut. Ausgezeichnet.

?Sehr gut" und ?ausgezeichnet" sagte er laut vor sich hin, und fügte mehr solche Worte hinzu. Pl?tzlich h?rte er sich sprechen, erschrak, sah in der Fensterscheibe sein entstelltes Gesicht gespiegelt, fremd, fratzenhaft und traurig. Mein Gott, schrie er in sich hinein, mein Gott! Was tun? Wozu noch leben? Mit der Stirn in dies bleiche Fratzenbild hinein, sich in diese trübe bl?de Scheibe stürzen, sich ins Glas verbei?en, sich am Glase den Hals abschneiden. Mit dem Kopf auf die Bahnschwelle schlagen, dumpf und dr?hnend, von den R?dern der vielen Wagen aufgewickelt werden, alles zusammen, D?rme und Hirn, Knochen und Herz, auch die Augen - und auf den Schienen zerrieben, zu Nichts gemacht, ausradiert. Dies war das einzige, was noch zu wünschen war, was noch Sinn hatte.

W?hrend er verzweifelt in sein Spiegelbild starrte, mit der Nase ans Glas stie?, schlief er wieder ein. Vielleicht Sekunden, vielleicht Stunden. Hin und her schlug sein Kopf, er ?ffnete die Augen nicht.

Er erwachte aus einem Traum, dessen letztes Stück ihm im Ged?chtnis blieb. Er sa?, so tr?umte ihm, vorn auf einem Automobil, das fuhr rasch und ziemlich waghalsig durch eine Stadt, bergauf und ab. Neben ihm sa? jemand, der den Wagen lenkte. Dem gab er im Traum einen Sto? in den Bauch, ri? ihm das Steuerrad aus den H?nden und steuerte nun selber, wild und beklemmend über Stock und Stein, knapp an Pferden und an Schaufenstern herbei, an B?ume streifend, da? ihm Funken vor den Augen stoben.

Aus diesem Traum erwachte er. Sein Kopf war freier geworden. Er l?chelte über die Traumbilder. Der Sto? in den Bauch war gut, er empfand ihn freudig nach. Nun begann er den Traum zu rekonstruieren und über ihn nachzudenken. Wie das an den B?umen vorbei gepfiffen hatte! Vielleicht kam es von der Eisenbahnfahrt? Aber das Steuern war, bei aller Gefahr, doch eine Lust gewesen, ein Glück, eine Erl?sung! Ja, es war besser, selber zu steuern und dabei in Scherben zu gehen, als immer von einem andern gefahren und gelenkt zu werden.

Aber - wem hatte er eigentlich im Traum diesen Sto? gegeben? Wer war der fremde Chauffeur, wer war neben ihm am Steuer des Automobils gesessen? Er konnte sich an kein Gesicht, an keine Figur erinnern - nur an ein Gefühl, eine vage dunkle Stimmung . . . Wer konnte es gewesen sein? Jemand, den er verehrte, dem er Macht über sein Leben einr?umte, den er über sich duldete, und den er doch heimlich ha?te, dem er doch schlie?lich den Tritt in den Bauch gab! Vielleicht sein Vater? Oder einer seiner Vorgesetzten? Oder - oder war es am Ende -?

Klein ri? die Augen auf. Er hatte ein Ende des verlorenen Fadens gefunden. Er wu?te alles wieder. Der Traum war vergessen. Es gab Wichtigeres. Jetzt wu?te er! Jetzt begann er zu wissen, zu ahnen, zu schmecken, warum er hier im Schnellzug sa?, warum er nicht mehr Klein hie?, warum er Geld unterschlagen und Papiere gef?lscht hatte. Endlich, endlich!

Ja, es war so. Es hatte keinen Sinn mehr, es vor sich zu verheimlichen. Es war seiner Frau wegen geschehen, einzig seiner Frau wegen. Wie gut, da? er es endlich wu?te!

Vom Turme dieser Erkenntnis aus meinte er pl?tzlich weite Strecken seines Lebens zu überblicken, das ihm seit langem immer in lauter kleine, wertlose Stücke auseinandergefallen war. Er sah auf eine lange durchlaufene Strecke zurück, auf seine ganze Ehe, und die Strecke erschien ihm wie eine lange, müde, ?de Stra?e, wo ein Mann allein im Staube sich mit schweren Lasten schleppt. Irgendwo hinten, unsichtbar jenseits des Staubes, wu?te er leuchtende H?hen und grüne rauschende Wipfel der Jugend verschwunden. Ja, er war einmal jung gewesen, und kein Jüngling wie alle, er hatte gro?e Tr?ume getr?umt, er hatte viel vom Leben und von sich verlangt. Seither aber nichts als Staub und Lasten, lange Stra?e, Hitze und müde Knie, nur im vertrocknenden Herzen ein verschlafenes, alt gewordnes Heimweh lauernd. Das war sein Leben gewesen. Das war sein Leben gewesen.

Er blickte durchs Fenster und zuckte erstaunt zusammen. Ungewohnte Bilder sahen ihn an. Er sah pl?tzlich aufzuckend, da? er im Süden war. Verwundert richtete er sich auf, lehnte sich hinaus, und wieder fiel ein Schleier, und das R?tsel seines Schicksals ward ein wenig klarer. Er war im Süden! Er sah Reblauben auf grünen Terrassen stehn, goldbraunes Gem?uer halb in Ruinen, wie auf alten Stichen, blühende rosenrote B?ume! Ein kleiner Bahnhof schwand vorbei, mit einem italienischen Namen, irgend etwas auf ogno oder ogna.

Soweit vermochte Klein jetzt die Wetterfahne seines Schicksals zu lesen. Es ging fort von seiner Ehe, seinem Amt, von allem, was bisher sein Leben und seine Heimat gewesen war. Und es ging nach Süden! Nun erst begriff er, warum er, mitten in Hetze und Rausch seiner Flucht, jene Stadt mit dem italienischen Namen zum Ziel gew?hlt hatte. Er hatte es nach einem Hotelbuch getan, anscheinend wahllos und auf gut Glück, er h?tte ebenso gut Amsterdam, Zürich oder Malm? sagen k?nnen. Erst jetzt war es kein Zufall mehr. Er war im Süden, er war durch die Alpen gefahren. Und damit hatte er den strahlendsten Wunsch seiner Jugendzeit erfüllt, jener Jugend, deren Erinnerungszeichen ihm auf der langen ?den Stra?e eines sinnlosen Lebens erloschen und verloren gegangen waren. Eine unbekannte Macht hatte es so gefügt, da? ihm die beiden brennendsten Wünsche seines Lebens sich erfüllten: die l?ngst vergessene Sehnsucht nach dem Süden, und das heimliche, niemals klar und frei gewordene Verlangen nach Flucht und Freiheit aus dem Frohndienst und Staub seiner Ehe. Jener Streit mit seinem Vorgesetzten, jene überraschende Gelegenheit zu der Unterschlagung des Geldes - all das, was ihm so wichtig erschienen war, fiel jetzt zu kleinen Zuf?llen zusammen. Nicht sie hatten ihn geführt. Jene beiden gro?en Wünsche in seiner Seele hatten gesiegt, alles andre war nur Weg und Mittel gewesen.

Klein erschrak vor dieser neuen Einsicht tief. Er fühlte sich wie ein Kind, das mit Zündh?lzern gespielt und ein Haus dabei angezündet hat. Nun brannte es. Mein Gott! Und was hatte er davon? Und wenn er bis nach Sizilien oder Konstantinopel fuhr, konnte ihn das um zwanzig Jahre jünger machen?

Indessen lief der Zug, und Dorf um Dorf lief ihm entgegen, fremdartig sch?n, ein heiteres Bilderbuch, mit allen den hübschen Gegenst?nden, die man vom Süden erwartet und aus Ansichtskarten kennt: steinerne sch?n gew?lbte Brücken über Bach und braunen Felsen, Weinbergmauern von kleinen Farnen überwachsen, hohe schlanke Glockentürme, die Fassaden der Kirchen bunt bemalt oder von gew?lbten Hallen mit leichten, edlen Bogen beschattet, H?user mit rosenrotem Anstrich und dickgemauerte Arkadenhallen mit dem kühlsten Blau gemalt, zahme Kastanien, da und dort schwarze Zypressen, kletternde Ziegen, vor einem Herrschaftshaus im Rasen die ersten Palmen kurz und dickst?mmig. Alles merkwürdig und ziemlich unwahrscheinlich, aber alles zusammen war doch überaus hübsch und verkündete etwas wie Trost. Es gab diesen Süden, er war keine Fabel. Die Brücken und Zypressen waren erfüllte Jugendtr?ume, die H?user und Palmen sagten: du bist nicht mehr im Alten, es beginnt lauter Neues. Luft und Sonnenschein schienen gewürzt und verst?rkt, das Atmen leichter, das Leben m?glicher, der Revolver entbehrlicher, das Ausradiertwerden auf den Schienen minder dringlich. Ein Versuch schien m?glich, trotz allem. Das Leben konnte vielleicht ertragen werden.

Wieder übernahm ihn die Erschlaffung, leichter gab er sich jetzt hin, und schlief bis es Abend war und der vollt?nende Name der kleinen Hotelstadt ihn weckte. Hastig stieg er aus.

Ein Diener mit dem Schild ?Hotel Milano" an der Mütze redete ihn deutsch an, er bestellte ein Zimmer und lie? sich die Adresse geben. Schlaftrunken taumelte er aus der Glashalle und dem Rauch in den lauen Abend.

?So habe ich mir etwa Honolulu gedacht," ging ihm durch den Kopf. Eine phantastisch unruhige Landschaft, schon beinahe n?chtlich, schwankte ihm fremd und unbegreiflich entgegen. Vor ihm fiel der Hügel steil hinab, da lag unten tief geschachtelt die Stadt, senkrecht blickte er auf erleuchtete Pl?tze hinunter. Von allen Seiten stürzten steile spitze Zuckerhutberge j?h herab in einen See, der am Wiederschein unz?hliger Quailaternen kenntlich wurde. Eine Seilbahn senkte sich wie ein Korb den Schacht hinunter zur Stadt, halb gef?hrlich, halb spielzeughaft. Auf einigen der hohen Bergkegel glühten erleuchtete Fenster bis zum Gipfel in launischen Reihen, Stufen und Sternbildern geordnet. Von der Stadt wuchsen die D?cher gro?er Hotels herauf, dazwischen schwarzdunkle G?rten, ein warmer sommerhafter Abendwind voll Staub und Duft flatterte wohlgelaunt unter den grellen Laternen. Aus der wirr durchfunkelten Finsternis am See schwoll taktfest und l?cherlich eine Blechmusik heran.

Ob das nun Honolulu, Mexiko oder Italien war, konnte ihm einerlei sein. Es war Fremde, es war neue Welt und neue Luft, und wenn sie ihn auch verwirrte und heimlich in Angst versetzte, sie duftete doch auch nach Rausch und Vergessen und neuen, unerprobten Gefühlen.

Eine Stra?e schien ins Freie zu führen, dorthin schlenderte er, an Lagerschuppen und leeren Lastfuhrwerken vorüber, dann bei kleinen Vorstadth?usern vorbei, wo laute Stimmen italienisch schrien und im Hof eines Wirtshauses eine Mandoline schrillte. Im letzten Hause klang eine M?dchenstimme auf, ein Duft von Wohllaut beklemmte ihm das Herz, viele Worte konnte er zu seiner Freude verstehen und den Refrain sich merken:

Mama non vuole, papa ne meno.

Come faremo a fare l'amor?

Es klang wie aus Tr?umen seiner Jugend her. Bewu?tlos schritt er die Stra?e weiter, flo? hingerissen in die warme Nacht, in der die Grillen sangen. Ein Weinberg kam, und bezaubert blieb er stehen: Ein Feuerwerk, ein Reigen von kleinen, grün glühenden Lichtern erfüllte die Luft und das duftende, hohe Gras, tausend Sternschnuppen taumelten trunken durcheinander. Es war ein Schwarm von Leuchtk?fern, langsam und lautlos geisterten sie durch die warm aufzuckende Nacht. Die sommerliche Luft und Erde schien sich phantastisch in leuchtenden Figuren und tausend kleinen beweglichen Sternbildern, auszuleben.

Lange stand der Fremde dem Zauber hingegeben und verga? die ?ngstliche Geschichte dieser Reise und die ?ngstliche Geschichte seines Lebens über der sch?nen Seltsamkeit. Gab es noch eine Wirklichkeit? Noch Gesch?fte und Polizei? Noch Assessoren und Kursberichte? Stand zehn Minuten von hier ein Bahnhof?

Langsam wandte sich der Flüchtling, der aus seinem Leben heraus in ein M?rchen gereist war, gegen die Stadt zurück. Laternen glühten auf. Menschen riefen ihm Worte zu, die er nicht verstand. Unbekannte Riesenb?ume standen voll Blüten, eine steinerne Kirche hing mit schwindelnder Terrasse über dem Absturz, helle Stra?en, von Treppen unterbrochen, flossen rasch wie Bergb?che in das St?dtchen hinab.

Klein fand sein Hotel, und mit dem Eintritt in die überhellen nüchternen R?ume, Halle und Treppenhaus schwand sein Rausch dahin, und es kehrte die ?ngstliche Schüchternheit zurück, sein Fluch und Kainszeichen. Betreten drückte er sich an den wachen, tarierenden Blicken des Concierge, der Kellner, des Liftjungen, der Hotelg?ste vorbei in die ?deste Ecke eines Restaurants. Er bat mit schwacher Stimme um die Speisekarte, und las, als w?re er noch arm und mü?te sparen, bei allen Speisen sorgf?ltig die Preise mit, bestellte etwas Wohlfeiles, ermunterte sich künstlich zu einer halben Flasche Bordeaux, der ihm nicht schmeckte, und war froh, als er endlich hinter verschlossener Tür in seinem sch?bigen kleinen Zimmer lag. Bald schlief er ein, schlief gierig und tief, aber nur zwei, drei Stunden. Noch mitten in der Nacht wurde er wieder wach.

Er starrte, aus den Abgründen des Unbewu?ten kommend, in die feindselige D?mmerung, wu?te nicht wo er war, hatte das drückende und schuldhafte Gefühl, Wichtiges vergessen und vers?umt zu haben. Wirr umhertastend erfühlte er einen Drücker und drehte Licht an. Das kleine Zimmer sprang ins grelle Licht, fremd, ?de, sinnlos. Wo war er? B?se glotzten die Plüschsessel. Alles blickte ihn kalt und fordernd an. Da fand er sich im Spiegel und las das Vergessene aus seinem Gesicht. Ja, er wu?te. Dies Gesicht hatte er früher nicht gehabt, nicht diese Augen, nicht diese Falten, nicht diese Farben. Es war ein neues Gesicht, schon einmal war es ihm aufgefallen, im Spiegel einer Glasscheibe, irgendwann im gehetzten Theaterstück dieser wahnsinnigen Tage. Es war nicht sein Gesicht, das gute, stille und etwas duldende Friedrich Klein-Gesicht. Es war das Gesicht eines Gezeichneten, vom Schicksal mit neuen Zeichen gestempelt, ?lter und auch jünger als das frühere, maskenhaft und doch wunderlich durchglüht. Niemand liebte solche Gesichter.

Da sa? er im Zimmer eines Hotels im Süden mit seinem gezeichneten Gesicht. Daheim schliefen seine Kinder, die er verlassen hatte. Nie mehr würde er sie schlafen, nie mehr sie aufwachen sehen, nie mehr ihre Stimmen h?ren. Er würde niemals mehr aus dem Wasserglas auf jenem Nachttisch trinken, auf dem bei der Stehlampe die Abendpost und ein Buch lag, und dahinter an der Wand überm Bett die Bilder seiner Eltern, und alles, und alles. Statt dessen starrte er hier im ausl?ndischen Hotel in den Spiegel, in das traurige und angstvolle Gesicht des Verbrechers Klein, und die Plüschm?bel blickten kalt und schlecht, und alles war anders, nichts war mehr in Ordnung. Wenn sein Vater das noch erlebt h?tte!

Niemals seit seiner Jugendzeit war Klein so unmittelbar und so einsam seinen Gefühlen überlassen gewesen, niemals so in der Fremde, niemals so nackt und senkrecht unter der unerbittlichen Sonne des Schicksals. Immer war er mit irgend etwas besch?ftigt gewesen, mit etwas anderm als mit sich selbst, immer hatte er zu tun und zu sorgen gehabt, um Geld, um Bef?rderung im Amt, um Frieden im Hause, um Schulgeschichten und Kinderkrankheiten; immer waren gro?e, heilige Pflichten des Bürgers, des Gatten, des Vaters um ihn her gestanden, in ihrem Schutz und Schatten hatte er gelebt, ihnen hatte er Opfer gebracht, von ihnen her war seinem Leben Rechtfertigung und Sinn gekommen. Jetzt hing er pl?tzlich nackt im Weltraum, er allein Sonne und Mond gegenüber, und fühlte die Luft um sich dünn und eisig.

Und das Wunderliche war, da? kein Erdbeben ihn in diese bange und lebensgef?hrliche Lage gebracht hatte, kein Gott und kein Teufel, sondern er allein, er selber! Seine eigene Tat hatte ihn hierher geschleudert, hier allein mitten in die fremde Unendlichkeit gestellt. In ihm selbst war alles gewachsen und entstanden, in seinem eigenen Herzen war das Schicksal gro? geworden, Verbrechen und Auflehnung, Wegwerfen heiliger Pflichten, Sprung in den Weltenraum, Ha? gegen sein Weib, Flucht, Vereinsamung und vielleicht Selbstmord. Andere mochten wohl auch Schlimmes und Umstürzendes erlebt haben, durch Brand und Krieg, durch Unfall und b?sen Willen anderer - er jedoch, der Verbrecher Klein, konnte sich auf nichts dergleichen berufen, auf nichts hinausreden, nichts verantwortlich machen, h?chstens vielleicht seine Frau. Ja, sie, sie allerdings konnte und mu?te herangezogen und verantwortlich gemacht werden, auf sie konnte er deuten, wenn einmal Rechenschaft von ihm verlangt wurde!

Ein gro?er Zorn brannte in ihm auf, und mit einemmal fiel ihm etwas ein, brennend und t?dlich, ein Kn?uel von Vorstellungen und Erlebnissen. Es erinnerte ihn an den Traum vom Automobil, und an den Sto?, den er seinem Feinde dort in den Bauch gegeben hatte.

Woran er sich nun erinnerte, das war ein Gefühl, oder eine Phantasie, ein seltsamer und krankhafter Seelenzustand, eine Versuchung, ein wahnsinniges Gelüst, oder wie immer man es bezeichnen wollte. Es war die Vorstellung oder Vision einer furchtbaren Bluttat, die er beging, indem er sein Weib, seine Kinder und sich selbst ums Leben brachte. Mehrmals, so besann er sich jetzt, w?hrend noch immer der Spiegel ihm sein gestempeltes, irres Verbrechergesicht zeigte, - mehrmals hatte er sich diesen vierfachen Mord vorstellen müssen, vielmehr sich verzweifelt gegen diese h??liche und unsinnige Vision gewehrt, wie sie ihm damals erschienen war. Genau damals hatten die Gedanken, Tr?ume und qu?lenden Zust?nde in ihm begonnen, so schien ihm, welche dann mit der Zeit zu der Unterschlagung und zu seiner Flucht geführt hatten. Vielleicht - es war m?glich - war es nicht blo? die übergro? gewordene Abneigung gegen seine Frau und sein Eheleben gewesen, die ihn von Hause fortgetrieben hatte, sondern noch mehr die Angst davor, da? er eines Tages doch noch dies viel furchtbarere Verbrechen begehen m?chte: sie alle t?ten, sie schlachten und in ihrem Blut liegen sehen. Und weiter: auch diese Vorstellung noch hatte eine Vorgeschichte. Sie war zu Zeiten gekommen, wie etwa ein leichter Schwindelanfall, wo man meint, sich fallen lassen zu müssen. Das Bild aber, die Mordtat, stammte aus einer besonderen Quelle her! Unbegreiflich, da? er das erst jetzt sah!

Damals, als er zum erstenmal die Zwangsvorstellung vom T?ten seiner Familie hatte, und über diese teuflische Vision zu Tode erschrocken war, da hatte ihn, gleichsam h?hnisch, eine kleine Erinnerung heimgesucht. Es war diese: Vor Jahren, als sein Leben anscheinend noch harmlos, ja beinahe glücklich war, sprach er einmal mit Kollegen über die Schreckenstat eines süddeutschen Schullehrers namens W. (er kam nicht gleich auf den Namen), der seine ganze Familie auf eine furchtbar blutige Weise abgeschlachtet und dann die Hand gegen sich selber erhoben hatte. Es war die Frage gewesen, wie weit bei einer solchen Tat von Zurechnungsf?higkeit die Rede sein k?nne, und im weiteren darüber, ob und wie man überhaupt eine solche Tat, eine solche grausige Explosion menschlicher Scheu?lichkeit verstehen und erkl?ren k?nne. Er, Klein, war damals sehr erregt gewesen und hatte gegen einen Kollegen, welcher jenen Totschlag psychologisch zu erkl?ren versuchte, überaus heftig ge?u?ert: einem so scheu?lichen Verbrechen gegenüber gebe es für einen anst?ndigen Mann keine andere Haltung als Entrüstung und Abscheu, eine solche Bluttat k?nne nur im Gehirn eines Teufels entstehen, und für einen Verbrecher dieser Art sei überhaupt keine Strafe, kein Gericht, keine Folter streng und schwer genug. Er erinnerte sich noch heut genau des Tisches, an dem sie sa?en, und des verwunderten und etwas kritischen Blickes, mit dem jener ?ltere Kollege ihn nach diesem Ausbruch seiner Entrüstung gestreift hatte.

Damals nun, als er sich selber zum erstenmal in einer h??lichen Phantasie als M?rder der Seinigen sah und er vor dieser Vorstellung mit einem Schauder zurückschreckte, da war ihm dies um Jahre zurückliegende Gespr?ch über den Verwandtenm?rder W. sofort wieder eingefallen. Und seltsam. Obwohl er h?tte schw?ren k?nnen, da? er damals v?llig aufrichtig seine wahrste Empfindung ausgesprochen habe, war jetzt in ihm innen eine h??liche Stimme da, die ihn verh?hnte und ihm zurief: schon damals, schon damals vor Jahren bei dem Gespr?ch über den Schullehrer W. habe sein Innerstes dessen Tat verstanden, verstanden und gebilligt, und seine so heftige Entrüstung und Erregung sei nur daraus entstanden, da? der Philister und Heuchler in ihm die Stimme des Herzens nicht habe gelten lassen wollen. Die furchtbaren Strafen und Foltern, die er dem Gattenm?rder wünschte, und die entrüsteten Schimpfworte, mit denen er dessen Tat bezeichnete, die hatte er eigentlich gegen sich selber gerichtet, gegen den Keim zum Verbrechen, der gewi? damals schon in ihm war! Seine gro?e Erregung bei diesem ganzen Gespr?ch und Anla? war nur daher gekommen, da? in Wirklichkeit er sich selbst sitzen sah, der Bluttat angeklagt, und da? er sein Gewissen zu retten suchte, indem er auf sich selber jede Anklage und jedes schwere Urteil h?ufte. Als ob er damit, mit diesem Wüten gegen sich selbst, das heimliche Verbrechertum in seinem Innern bestrafen oder übert?uben k?nnte.

Soweit kam Klein mit seinen Gedanken, und er fühlte, da? es sich da für ihn um Wichtiges, ja um das Leben selber handle. Aber es war uns?glich mühsam, diese Erinnerungen und Gedanken auseinanderzuf?deln und zu ordnen. Eine aufzuckende Ahnung letzter, erl?sender Erkenntnisse unterlag der Müdigkeit und dem Widerwillen gegen seine ganze Situation. Er stand auf, wusch sich das Gesicht, ging barfu? auf und ab, bis ihn fr?stelte, und dachte nun zu schlafen.

Aber es kam kein Schlaf. Er lag unerbittlich seinen Empfindungen ausgeliefert, lauter h??lichen, schmerzenden und demütigenden Gefühlen: dem Ha? gegen seine Frau, dem Mitleid mit sich selber, der Ratlosigkeit, dem Bedürfnis nach Erkl?rungen, Entschuldigungen, Trostgründen. Und da ihm für jetzt keine andern Trostgründe einfielen, und da der Weg zum Verst?ndnis so tief und schonungslos in die heimlichsten und gef?hrlichsten Dickichte seiner Erinnerungen führte, und der Schlaf nicht wieder kommen wollte, lag er den Rest der Nacht in einem Zustande, den er in diesem h??lichen Grad noch nicht gekannt hatte. Alle die widerlichen Gefühle, die in ihm stritten, vereinigten sich zu einer furchtbaren, erstickenden, t?dlichen Angst, zu einem teuflischen Alpdruck auf Herz und Lunge, der sich immer von neuem bis an die Grenze des Unertr?glichen steigerte. Was Angst war, hatte er ja l?ngst gewu?t, seit Jahren schon, und seit den letzten Wochen und Tagen erst! Aber so hatte er sie noch nie an der Kehle gefühlt! Zwanghaft mu?te er an die wertlosesten Dinge denken, an einen vergessenen Schlüssel, an die Hotelrechnung, und daraus Berge von Sorgen und peinlichen Erwartungen schaffen. Die Frage, ob dies sch?bige Zimmerchen für die Nacht wohl mehr als dreieinhalb Franken kosten würde, und ob er in diesem Fall noch l?nger im Hause bleiben solle, hielt ihn wohl eine Stunde lang in Atem, Schwei? und Herzklopfen. Dabei wu?te er genau, wie dumm diese Gedanken seien, und sprach immer wieder sich selbst vernünftig und begütigend zu, wie einem trotzigen Kind, rechnete sich an den Fingern die v?llige Haltlosigkeit seiner Sorgen vor - vergebens, vollkommen vergebens! Vielmehr d?mmerte auch hinter diesem Tr?sten und Zureden etwas wie blutiger Hohn auf, als sei auch das blo? Getue und Theater, gerade so wie damals sein Getue wegen dem M?rder W. Da? die Todesangst, da? dies grauenhafte Gefühl einer Umschnürung und eines Verurteiltseins zu qualvollem Ersticken nicht von der Sorge um die paar Franken oder von ?hnlichen Ursachen herkomme, war ihm ja klar. Dahinter lauerte Schlimmeres, Ernsteres - aber was? Es mu?ten Dinge sein, die mit dem blutigen Schullehrer, mit seinen eigenen Mordwünschen und mit allem Kranken und Ungeordneten in ihm zu tun hatten. Aber wie daran rühren? Wie den Grund finden? Da gab es keine Stelle in ihm innen, die nicht blutete, die nicht krank und faul und wahnsinnig schmerzempfindlich war. Er spürte: Lange war das nicht zu ertragen. Wenn es so weiter ging, und namentlich wenn noch manche solche N?chte kamen, dann wurde er wahnsinnig oder nahm sich das Leben.

Angespannt setzte er sich im Bett aufrecht und suchte das Gefühl seiner Lage auszusch?pfen, um einmal damit fertig zu werden. Aber es war immer dasselbe: Einsam und hilflos sa? er, mit fieberndem Kopf und schmerzlichem Herzdruck, in Todesbangigkeit dem Schicksal gegenüber wie ein Vogel der Schlange, festgebannt und von Furcht verzehrt. Schicksal, das wu?te er jetzt, kam nicht von irgendwo her, es wuchs im eigenen Innern. Wenn er kein Mittel dagegen fand, so fra? es ihn auf - dann war ihm beschieden, Schritt für Schritt von der Angst, von dieser grauenhaften Angst verfolgt und aus seiner Vernunft verdr?ngt zu werden, Schritt für Schritt, bis er am Rande stand, den er schon nahe fühlte.

Verstehen k?nnen - das w?re gut, das w?re vielleicht die Rettung! Er war noch lange nicht am Ende mit dem Erkennen seiner Lage und dessen, was mit ihm vorgegangen war. Er stand noch ganz im Anfang, das fühlte er wohl. Wenn er sich jetzt zusammenraffen und alles ganz genau zusammenfassen, ordnen und überlegen k?nnte, dann würde er vielleicht den Faden finden. Das Ganze würde einen Sinn und ein Gesicht bekommen und würde dann vielleicht zu ertragen sein. Aber diese Anstrengung, dieses letzte Sichaufraffen war ihm zu viel, es ging über seine Kr?fte, er konnte einfach nicht. Je angespannter er zu denken versuchte, desto schlechter ging es, er fand statt Erinnerungen und Erkl?rungen in sich nur leere L?cher, nichts fiel ihm ein, und dabei verfolgte ihn schon wieder die qu?lende Angst, er m?chte gerade das Wichtigste vergessen haben. Er st?rte und suchte in sich herum wie ein nerv?ser Reisender, der alle Taschen und Koffer nach seiner Fahrkarte durchwühlt, die er vielleicht am Hut oder gar in der Hand hat. Aber was half es, das Vielleicht?

Vorher, vor einer Stunde oder l?nger - hatte er da nicht eine Erkenntnis gehabt, einen Fund getan? Was war es gewesen, was? Es war fort, er fand es nicht wieder. Verzweifelnd schlug er sich mit der Faust an die Stirn. Gott im Himmel, la? mich den Schlüssel finden! La? mich nicht so umkommen, so jammervoll, so dumm, so traurig! In Fetzen gel?st wie Wolkentreiben im Sturm floh seine ganze Vergangenheit an ihm vorüber, Millionen Bilder, durcheinander und übereinander, unkenntlich und h?hnend, jedes an irgend etwas erinnernd - an was? An was?

Pl?tzlich fand er den Namen ?Wagner" auf seinen Lippen. Wie bewu?tlos sprach er ihn aus: ?Wagner - Wagner." Wo kam der Name her? Aus welchem Schacht? Was wollte er? Wer war Wagner? Wagner?

Er bi? sich an den Namen fest. Er hatte eine Aufgabe, ein Problem, das war besser als dies Hangen im Gestaltlosen. Also: Wer ist Wagner? Was geht mich Wagner an? Warum sagen meine Lippen, die verzogenen Lippen in meinem Verbrechergesicht, jetzt in der Nacht den Namen Wagner vor sich hin? Er nahm sich zusammen. Allerlei fiel ihm ein. Er dachte an Lohengrin, und damit an das etwas unklare Verh?ltnis, das er zu dem Musiker Wagner hatte. Er hatte ihn, als Zwanzigj?hriger, rasend geliebt. Sp?ter war er mi?trauisch geworden, und mit der Zeit hatte er gegen ihn eine Menge von Einw?nden und Bedenken gefunden. An Wagner hatte er viel herumkritisiert, und vielleicht galt diese Kritik weniger dem Richard Wagner selbst als seiner eigenen, einstigen Liebe zu ihm? Haha, hatte er sich wieder erwischt? Hatte er da wieder einen Schwindel aufgedeckt, eine kleine Lüge, einen kleinen Unrat? Ach ja, es kam einer um den andern zum Vorschein - in dem tadellosen Leben des Beamten und Gatten Friedrich Klein war es gar nicht tadellos, gar nicht sauber gewesen, in jeder Ecke lag ein Hund begraben! Ja, richtig, also so war es auch mit Wagner. Der Komponist Richard Wagner wurde von Friedrich Klein scharf beurteilt und geha?t. Warum? Weil Friedrich Klein es sich selber nicht verzeihen konnte, da? er als junger Mensch für diesen selben Wagner geschw?rmt hatte. In Wagner verfolgte er nun seine eigne Jugendschw?rmerei, seine eigne Jugend, seine eigne Liebe. Warum? Weil Jugend und Schw?rmerei und Wagner und all das ihn peinlich an Verlorenes erinnerten, weil er sich von einer Frau hatte heiraten lassen, die er nicht liebte, oder doch nicht richtig, nicht genug. Ach, und so, wie er gegen Wagner verfuhr, so verfuhr der Beamte Klein noch gegen viele und vieles. Er war ein braver Mann, der Herr Klein, und hinter seiner Bravheit versteckte er nichts als Unflat und Schande! Ja, wenn er ehrlich sein wollte - wieviel heimliche Gedanken hatte er vor sich selber verbergen müssen! Wieviel Blicke nach hübschen M?dchen auf der Gasse, wieviel Neid gegen Liebespaare, die ihm abends begegneten, wenn er vom Amt zu seiner Frau nach Hause ging! Und dann die Mordgedanken. Und hatte er nicht den Ha?, der ihm selber h?tte gelten sollen, auch gegen jenen Schullehrer - - -

Er schrak pl?tzlich zusammen. Wieder ein Zusammenhang! Der Schullehrer und M?rder hatte ja - Wagner gehei?en! Also da sa? der Kern! Wagner - so hie? jener Unheimliche, jener wahnsinnige Verbrecher, der seine ganze Familie umgebracht hatte. War nicht mit diesem Wagner irgendwie sein ganzes Leben seit Jahren verknüpft gewesen? Hatte nicht dieser üble Schatten ihn überall verfolgt?

Nun, Gott sei Dank, der Faden war wieder gefunden. Ja, und über diesen Wagner hatte er einst, in langvergangener besserer Zeit, sehr zornig und emp?rt gescholten und ihm die grausamsten Strafen gewünscht. Und dennoch hatte er sp?ter selber, ohne mehr an Wagner zu denken, denselben Gedanken gehabt und hatte mehrmals in einer Art von Vision sich selber gesehen, wie er seine Frau und seine Kinder ums Leben brachte.

Und war denn das nicht eigentlich sehr verst?ndlich? War es nicht richtig? Konnte man nicht sehr leicht dahin kommen, da? die Verantwortung für das Dasein von Kindern einem unertr?glich wurde, ebenso unertr?glich wie das eigene Wesen und Dasein, das man nur als Irrtum, nur als Schuld und Qual empfand?

Aufseufzend dachte er diesen Gedanken zu Ende. Es schien ihm jetzt ganz gewi?, da? er schon damals, als er ihn zuerst erfuhr, im Herzen jenen Wagnerschen Totschlag verstanden und gebilligt habe, gebilligt natürlich nur als M?glichkeit. Schon damals, als er noch nicht sich unglücklich und sein Leben verpfuscht fühlte, schon damals vor Jahren, als er noch meinte, seine Frau zu lieben und an ihre Liebe glaubte, schon damals hatte sein Innerstes den Schullehrer Wagner verstanden und seinem entsetzlichen Schlachtopfer heimlich zugestimmt. Was er damals sagte und meinte, war immer nur die Meinung seines Verstandes gewesen, nicht die seines Herzens. Sein Herz - jene innerste Wurzel in ihm, aus der das Schicksal wuchs - hatte schon immer und immer eine andere Meinung gehabt, es hatte Verbrechen begriffen und gebilligt. Es waren immer zwei Friedrich Klein dagewesen, ein sichtbarer und ein heimlicher, ein Beamter und ein Verbrecher, ein Familienvater und ein M?rder.

Damals aber war er im Leben stets auf der Seite des ?bessern" Ich gestanden, des Beamten und anst?ndigen Menschen, des Ehemannes und rechtlichen Bürgers. Die heimliche Meinung seines Innersten hatte er nie gebilligt, er hatte sie nicht einmal gekannt. Und doch hatte diese innerste Stimme ihn unvermerkt geleitet und schlie?lich zum Flüchtling und Verworfenen gemacht!

Dankbar hielt er diesen Gedanken fest. Da war doch ein Stück Folgerichtigkeit, etwas wie Vernunft. Es genügte noch nicht, es blieb alles Wichtige noch so dunkel, aber eine gewisse Helligkeit, eine gewisse Wahrheit war doch gewonnen. Und Wahrheit - das war es, worauf es ankam. Wenn ihm nur das kurze Ende des Fadens nicht wieder verlorenging!

Zwischen Wachen und Schlaf vor Ersch?pfung fiebernd, immer an der Grenze zwischen Gedanke und Traum, verlor er hundertmal den Faden wieder, fand ihn hundertmal neu. Bis es Tag war und der Gassenl?rm zum Fenster hereinscholl.

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