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Peter Camenzind
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Peter Camenzind by Hermann Hesse

Chapter 1 No.1

Im Anfang war der Mythus. Wie der gro?e Gott in den Seelen der Inder, Griechen und Germanen dichtete und nach Ausdruck rang, so dichtet er in jedes Kindes Seele t?glich wieder.

Wie der See und die Berge und die B?che meiner Heimat hie?en, wu?te ich noch nicht. Aber ich sah die blaugrüne glatte Seebreite, mit kleinen Lichtern durchwirkt, in der Sonne liegen und im dichten Kranz um sie die j?hen Berge, und in ihren h?chsten Ritzen die blanken Schneescharten und kleinen, winzigen Wasserf?lle, und an ihrem Fu? die schr?gen, lichten Matten, mit Obstb?umen, Hütten und grauen Alpkühen besetzt. Und da meine arme, kleine Seele so leer und still und wartend lag, schrieben die Geister des Sees und der Berge ihre sch?nen kühnen Taten auf sie. Die starren W?nde und Flühen sprachen trotzig und ehrfürchtig von Zeiten, deren S?hne sie sind und deren Wundmale sie tragen. Sie sprachen von damals, da die Erde barst und sich bog und aus ihrem gequ?lten Leibe in st?hnender Werdenot Gipfel und Grate hervortrieb. Felsberge dr?ngten sich brüllend und krachend empor, bis sie ziellos vergipfelnd knickten, Zwillingsberge rangen in verzweifelter Not um Raum, bis einer siegte und stieg und den Bruder beiseite warf und zerbrach. Noch immer hingen von jenen Zeiten her da und dort hoch in den Schlüften abgebrochene Gipfel, weggedr?ngte und gespaltene Felsen, und in jeder Schneeschmelze führte der Wassersturz hausgro?e Bl?cke nieder, zersplitterte sie wie Glas oder rannte sie mit m?chtigem Schlage tief in weiche Matten ein.

Sie sagten immer dasselbe, diese Felsberge. Und es war leicht sie zu verstehen, wenn man ihre j?hen W?nde sah, Schicht um Schicht geknickt, verbogen, geborsten, jede voll von klaffenden Wunden. ?Wir haben Schauerliches gelitten," sagten sie, ?und wir leiden noch." Aber sie sagten es stolz, streng und verbissen, wie alte unverwüstliche Kriegsleute.

Jawohl, Kriegsleute. Ich sah sie k?mpfen, mit Wasser und Sturm, in den schauerlichen Vorfrühlingsn?chten, wenn der erbitterte F?hn um ihre alten H?upter brüllte und wenn die Bachstürze frische, rohe Stücke aus ihren Flanken rissen. Sie standen mit trotzig gestemmten Wurzeln in diesen N?chten, finster, atemlos und verbissen, streckten dem Sturm die zerspaltenen Wetterw?nde und H?rner entgegen und spannten alle Kraft in trotzig geduckter Sammlung zusammen. Und bei jeder Wunde lie?en sie das grausige Rollen der Wut und Angst vernehmen, und durch alle fernsten Rüfenen klang gebrochen und zornig ihr schreckliches St?hnen wieder.

Und ich sah Matten und H?nge und erdige Felsritzen mit Gr?sern, Blumen, Farnen und Moosen bedeckt, denen die alte Volkssprache merkwürdige, ahnungsvolle Namen gegeben hatte. Sie lebten, Kinder und Enkel der Berge, farbig und harmlos an ihren St?tten. Ich befühlte sie, betrachtete sie, roch ihren Duft und lernte ihre Namen. Ernster und tiefer berührte mich der Anblick der B?ume. Ich sah jeden von ihnen sein abgesondertes Leben führen, seine besondere Form und Krone bilden und seinen eigenartigen Schatten werfen. Sie schienen mir, als Einsiedler und K?mpfer, den Bergen n?her verwandt, denn jeder von ihnen, zumal die h?her am Berge stehenden, hatte seinen stillen, z?hen Kampf um Bestand und Wachstum, mit Wind, Wetter und Gestein. Jeder hatte seine Last zu tragen und sich festzuklammern, und davon trug jeder seine eigene Gestalt und besondere Wunden. Es gab F?hren, denen der Sturm nur auf einer einzigen Seite ?ste zu haben erlaubte, und solche, deren rote St?mme sich wie Schlangen um überh?ngende Felsen gebogen hatten, soda? Baum und Fels eins das andere an sich drückte und erhielt. Sie sahen mich wie kriegerische M?nner an und erweckten Scheu und Ehrfurcht in meinem Herzen.

Unsere M?nner und Frauen aber glichen ihnen, waren hart, streng gefaltet und wenig redend, die besten am wenigsten. Daher lernte ich die Menschen gleich B?umen oder Felsen anschauen, mir Gedanken über sie zu machen und sie nicht weniger zu ehren und nicht mehr zu lieben als die stillen F?hren.

Unser D?rflein Nimikon liegt auf einer dreieckigen, zwischen zwei Bergvorsprünge geklemmten schr?gen Fl?che am See. Ein Weg führt nach dem nahen Kloster, ein zweiter nach einem viereinhalb Stunden entfernten Nachbarort, die übrigen am See gelegenen D?rfer erreicht man zu Wasser. Unsere H?user sind im alten Holzstil erbaut und haben kein bestimmtes Alter, es kommen fast niemals Neubauten vor und die alten H?uslein werden je nach Bedürfnis stückweise repariert, dies Jahr die Diele, ein andermal ein Stück am Dach, und mancher halbe Balken und manche Latte, die früher einmal etwa zur Stubenwand geh?rt haben, findet man jetzt als Sparren im Dach und wenn sie auch dazu nimmer dienen und doch noch zu gut zum Verbrennen sind, so kommen sie das n?chste mal beim Flicken des Stalls oder Heubodens oder als Querlatte an der Haustüre zur Verwendung. ?hnlich ist es mit den darin Wohnenden selber; jeder spielt so lang er kann seine Rolle mit, tritt dann z?gernd in den Kreis der Unbrauchbaren und taucht schlie?lich ins Dunkel unter, ohne da? viel Aufsehens davon gemacht würde. Wer nach jahrelanger Fremde zu uns heimkehrt, findet nichts ver?ndert, als da? ein paar alte D?cher erneuert und ein paar neuere alt geworden sind; die Greise von ehemals sind zwar dahin, aber es sind andere Greise da, welche die gleichen Hütten bewohnen, die gleichen Namen tragen, dasselbe dunkelhaarige Kindervolk bewachen und an Gesicht und Gebahren sich von den indessen Weggestorbenen kaum unterscheiden.

Unsrer Gemeinde mangelte eine h?ufigere Zufuhr frischen Blutes und Lebens von au?en her. Die Bewohner, ein leidlich rüstiges Geschlecht, sind fast alle untereinander aufs engste verschw?gert und reichlich drei Viertel tragen den Namen Camenzind. Er füllt die Seiten des Kirchenbuchs und steht auf den Kirchhofkreuzen, prangt an den H?usern in ?lfarbe oder in derber Schnitzarbeit und ist auf den Wagen des Fuhrhalters, auf den Stalleimern und auf den Seebooten zu lesen. Auch über meines Vaters Haustür stand gemalt: ?Dieses Haus haben gebauen Jost und Franziska Camenzind," doch ging das nicht meinen Vater, sondern dessen Ahn, meinen Urgro?vater an; und wenn ich auch vermutlich einmal sterben werde ohne Kinder dazulassen, so wei? ich doch, da? wieder ein Camenzind das alte Nest besiedeln wird, wenn anders es bis dorthin noch steht und ein Dach über hat.

Ungeachtet der scheinbaren Eint?nigkeit gab es dennoch in unsrer Bürgerschaft B?se und Gute, Vornehme und Geringe, M?chtige und Niedrige und neben manchen Klugen eine erg?tzliche kleine Sammlung von Narren, die Kretins gar nicht mitgerechnet. Es war wie überall ein kleines Abbild der gro?en Welt und da Gro?e und Kleine, Schlaumeier und Narren unl?slich untereinander verwandt und vervettert waren, traten sich strenger Hochmut und bornierter Leichtsinn oft genug unter demselben Dach auf die Zehen, so da? unser Leben für die Tiefe und Komik des Menschlichen hinreichenden Raum bot. Nur lag ein ewiger Schleier von verheimlichter oder unbewu?ter Bedrücktheit darüber. Das Abh?ngigsein von den Naturm?chten und die Kümmerlichkeit eines arbeitsvollen Daseins hatten im Verlauf der Zeiten unsrem ohnehin alternden Geschlecht eine Neigung zum Tiefsinn eingegeben, der zu den scharfen, schroffen Gesichtern zwar nicht übel pa?te, sonst aber keinerlei Früchte zeitigte, wenigstens keine erfreulichen. Eben darum war man froh an den paar Narren, welche zwar noch still und ernsthaft genug waren, aber doch einige Farbe und einige Gelegenheit zu Gel?chter und Spott hereinbrachten. Wenn einer von ihnen durch einen neuen Streich von sich reden machte, ging ein frohes Wetterleuchten über die faltigen, braunen Gesichter der S?hne Nimikons und zur Lust am Spa?e selber kam noch als feine pharis?ische Würze der Genu? der eigenen überlegenheit, welche vor Vergnügen schnalzte im Gefühl, vor solchen Irrungen oder Fehltritten sicher zu sein. Zu jenen Vielen, die in der Mitte zwischen Gerechten und Sündern standen und von beiden gern das Annehmliche mitgenossen h?tten, geh?rte auch mein Vater. Es wurde kein Narrenstreich reif, der ihn nicht mit seliger Unruhe erfüllt h?tte, und er schwankte alsdann zwischen der teilnehmenden Bewunderung für den Anstifter und dem feisten Bewu?tsein der eigenen Makellosigkeit possierlich hin und wider.

Zu den Narren selbst geh?rte mein Oheim Konrad, ohne da? er deshalb etwa meinem Vater und anderen Helden an Verstand etwas nachgegeben h?tte. Vielmehr war er ein Schlaukopf und ward von einem ruhelosen Erfindungsgeist umgetrieben, um den die andern ihn ruhig h?tten beneiden dürfen. Aber freilich glückte ihm nichts. Da? er, statt darüber den Kopf h?ngen zu lassen und tatlos tiefsinnig zu werden, immer wieder Neues begann und dabei ein merkwürdig lebhaftes Gefühl für das Tragikomische seiner eigenen Unternehmungen hatte, war gewi? ein Vorzug, wurde ihm aber als l?cherliche Sonderbarkeit angeschrieben, kraft welcher man ihn zu den unbesoldeten Hanswürsten der Gemeinde z?hlte. Meines Vaters Verh?ltnis zu ihm war ein dauerndes hin und her zwischen Bewunderung und Verachtung. Jedes neue Projekt seines Schwagers versetzte ihn in eine gewaltige Neugierde und Aufregung, die er vergebens hinter lauernd ironischen Fragen und Anspielungen zu verstecken trachtete. Wenn dann der Oheim seines Erfolges sicher zu sein glaubte und den Gro?artigen zu spielen begann, lie? er sich jedesmal hinrei?en und schlo? sich dem Genialen in spekulierender Brüderlichkeit an, bis der unvermeidliche Mi?erfolg da war, über den der Oheim die Achseln zuckte, w?hrend der Vater im Zorn ihn mit Hohn und Beleidigung übergo? und monatelang keines Blickes und Wortes mehr würdigte.

Konrad war es, dem unser Dorf den ersten Anblick eines Segelboots verdankte, und meines Vaters Nachen hat dazu herhalten müssen. Das Segel- und Seilwerk war vom Oheim nach Kalenderholzschnitten sauber ausgeführt und da? unser Schifflein für ein Segelboot zu schmal gebaut war, ist am Ende nicht Konrads Schuld gewesen. Die Vorbereitungen dauerten wochenlang, mein Vater wurde vor Spannung, Hoffnung und Angst schier zu Quecksilber und auch das übrige Dorf sprach von nichts soviel wie von Konrad Camenzinds neuestem Vorhaben. Es war ein denkwürdiger Tag für uns, als das Boot an einem windigen Sp?tsommermorgen zum erstenmal in See gehen sollte. Mein Vater, in scheuer Ahnung einer m?glichen Katastrophe, hielt sich fern und hatte auch mir zu meiner gro?en Betrübnis das Mitfahren verboten. Der Sohn des B?ckers Fü?li begleitete den Segelkünstler allein. Aber das ganze Dorf stand auf unserem Kiesplatz und in den G?rtchen und wohnte dem unerh?rten Spektakel bei. Seeabw?rts blies ein flotter Ostwind. Zu Anfang mu?te der Beck rudern, bis das Boot in die Bise geriet, sein Segel bl?hte und stolz davonjagte. Wir sahen es bewundernd um den n?chsten Bergvorsprung entschwinden und richteten uns darauf ein, den schlauen Oheim bei seiner Heimkehr als Sieger zu begrü?en und uns unserer h?hnischen Aftergedanken zu sch?men. Als jedoch in der Nacht das Boot zurückkehrte, hatte es kein Segel mehr, die Schiffer waren mehr tot als lebendig und der B?ckerssohn hustete und meinte: ?Ihr seid um ein Hauptvergnügen gekommen, leichtlich h?tte es auf den Sonntag zwei Leichenschm?use geben k?nnen." Mein Vater mu?te zwei neue Planken in den Nachen basteln, und seither hat sich nie wieder ein Segel in der blauen Fl?che gespiegelt. Dem Konrad rief man noch lange, so oft er irgend etwas eilig hatte, nach: ?Mu?t Segel nehmen, Konrad!" Mein Vater fra? den ?rger in sich hinein und lange Zeit, so oft der arme Schwager ihm begegnete, sah er beiseite und spuckte in gro?en Bogen aus, zum Zeichen unaussprechlicher Verachtung. Das dauerte so lang, bis Konrad eines Tags mit seinem feuersicheren Backofenprojekt bei ihm vorsprach, welches dem Erfinder unendlichen Spott auf den Hals brachte und meinen Vater auf vier bare Taler zu stehen kam. Wehe dem, der ihn an diese Viertalergeschichte zu erinnern wagte! Lange sp?ter, als einmal wieder Not im Hause war, sagte die Mutter einmal so beil?ufig, es w?re doch gut wenn jetzt das sündlich verdubelte Geld noch da w?re. Der Vater wurde dunkelrot bis an den Hals, aber er bezwang sich und sagte nur: ?Ich wollt', ich h?tt' es an einem einzigen Sonntag versoffen."

Am Ende jedes Winters kam der F?hn mit seinem tieft?nigen Gebrause, das der ?lpler mit Zittern und Entsetzen h?rt und nach welchem er in der Fremde mit verzehrendem Heimweh dürstet.

Wenn der F?hn nahe ist, spüren ihn viele Stunden voraus M?nner und Weiber, Berge, Wild und Vieh. Sein Kommen, welchem fast immer kühle Gegenwinde vorausgehen, verkündigt ein warmes, tiefes Sausen. Der blaugrüne See wird in ein paar Augenblicken tinteschwarz und setzt pl?tzlich hastige, wei?e Schaumkronen auf. Und bald darauf donnert er, der noch vor Minuten unh?rbar friedlich lag, mit erbitterter Brandung wie ein Meer ans Ufer. Zugleich rückt die ganze Landschaft ?ngstlich nah zusammen. Auf Gipfeln, die sonst in entrückter Ferne brüteten, kann man jetzt die Felsen z?hlen und von D?rfern, die sonst nur als braune Flecken im Weiten lagen, unterscheidet man jetzt D?cher, Giebel und Fenster. Alles rückt zusammen, Berge, Matten und H?user, wie eine furchtsame Herde. Und dann beginnt das grollende Sausen, das Zittern im Boden. Aufgepeitschte Seewellen werden streckenweit wie Rauch durch die Luft dahingetrieben, und fortw?hrend, zumal in den N?chten, h?rt man den verzweifelten Kampf des Sturmes mit den Bergen. Eine kleine Zeit sp?ter redet sich dann die Nachricht von verschütteten B?chen, zerschlagenen H?usern, zerbrochenen K?hnen und vermi?ten V?tern und Brüdern durch die D?rfer.

In Kinderzeiten fürchtete ich den F?hn und ha?te ihn sogar. Mit dem Erwachen der Knabenwildheit aber bekam ich ihn lieb, den Emp?rer, den Ewigjungen, den frechen Streiter und Bringer des Frühlings. Es war so herrlich, wie er voll Leben, überschwang und Hoffnung seinen wilden Kampf begann, stürmend, lachend und st?hnend, wie er heulend durch die Schluchten hetzte, den Schnee von den Bergen fra? und die z?hen alten F?hren mit rauhen H?nden bog und zum Seufzen brachte. Sp?ter vertiefte ich meine Liebe und begrü?te nun im F?hn den sü?en, sch?nen, allzureichen Süden, welchem immer wieder Str?me von Lust, W?rme und Sch?nheit entquellen, um sich an den Bergen zu zersprengen und endlich im flachen, kühlen Norden ermüdet zu verbluten. Es gibt nichts Seltsameres und K?stlicheres als das sü?e F?hnfieber, das in der F?hnzeit die Menschen der Bergl?nder und namentlich die Frauen überf?llt, den Schlaf raubt und alle Sinne streichelnd reizt. Das ist der Süden, der sich dem spr?den, ?rmeren Norden immer wieder stürmisch und lodernd an die Brust wirft und den verschneiten Alpend?rfern verkündigt, da? jetzt an den nahen, purpurnen Seen Welschlands schon wieder Primeln, Narzissen und Mandelzweige blühen.

Alsdann, wenn der F?hn verblasen hat und die letzten schmutzigen Lawinen zerlaufen sind, dann kommt das Sch?nste. Dann recken sich berghinan auf allen Seiten die beblümten gelblichen Matten, rein und selig stehen die Schneegipfel und Gletscher in ihren H?hen und der See wird blau und warm und spiegelt Sonne und Wolkenzüge wieder.

Alles dieses kann schon eine Kindheit und zur Not auch ein Leben erfüllen. Denn alles dieses redet laut und ungebrochen die Sprache Gottes, wie sie nie über eines Menschen Lippen kam. Wer sie so in seiner Kindheit vernommen hat, dem t?nt sie sein Leben lang nach, sü? und stark und furchtbar, und ihrem Bann entflieht er nie. Wenn einer in den Bergen heimisch ist, der kann jahrelang Philosophie oder historia naturalis studieren und mit dem alten Herrgott aufr?umen, - wenn er den F?hn wieder einmal spürt oder h?rt eine Laue durch's Holz brechen, so zittert ihm das Herz in der Brust und er denkt an Gott und ans Sterben.

An meines Vaters H?uschen grenzte ein umz?unter, winziger Garten. Es gedieh dort ein herber Salat, Rüben und Kohl, au?erdem hatte die Mutter eine rührend schmale, dürftige Rabatte für Blumen angelegt, in welcher zwei Monatrosenst?cke, ein Georginenbusch und eine Handvoll Reseden hoffnungslos und kümmerlich verschmachteten. An den Garten stie? ein noch kleinerer, kiesiger Platz, welcher bis zum See reichte. Dort standen zwei besch?digte F?sser, einige Bretter und Pf?hle, und unten im Wasser lag unser Weidling angebunden, welcher damals noch alle paar Jahre neu geflickt und geteert wurde. Die Tage, an denen dies geschah, sind mir fest im Ged?chtnis geblieben. Es waren warme Nachmittage im Vorsommer, über dem G?rtchen taumelten die schwefelgelben Citronenfalter in der Sonne, der See war ?lglatt, blau und still und leise schillernd, die Berggipfel dünn umdünstet, und auf dem kleinen Kiesplatz roch es gewaltig nach Pech und ?lfarbe. Auch nachher duftete der Nachen noch den ganzen Sommer hindurch nach Teer. So oft ich, viele Jahre sp?ter, irgendwo am Meere den eigentümlich aus Wassergeruch und Teerbrodem gemischten Duft in die Nase bekam, trat mir sogleich unser Seepl?tzlein vor's Auge, und ich sah wieder den Vater in Hemd?rmeln mit dem Pinsel hantieren, sah die bl?ulichen W?lkchen aus seiner Pfeife in die stillen Sommerlüfte steigen und die blitzgelben Falter ihre unsicheren, scheuen Flüge tun. An solchen Tagen zeigte mein Vater eine ungew?hnlich behagliche Laune, pfiff Triller, was er vortrefflich konnte, und gab vielleicht sogar einen einzelnen kurzen Jodler von sich, diesen jedoch nur halblaut. Die Mutter kochte alsdann etwas Gutes auf den Abend und ich denke mir jetzt, sie tat es in der stillen Hoffnung, Camenzind m?chte diesen Abend nicht ins Wirtshaus gehen. Er ging aber doch.

Da? die Eltern die Entwicklung meines jungen Gemütes sonderlich gef?rdert oder gest?rt h?tten, kann ich nicht sagen. Die Mutter hatte immer beide H?nde voll Arbeit und mein Vater hatte sich gewi? mit nichts auf der Welt so wenig besch?ftigt als mit Erziehungsfragen. Er hatte genug zu tun, seine paar Obstb?ume kümmerlich im Stand zu halten, das Kartoffel?ckerlein zu bestellen und nach dem Heu zu sehen. Ungef?hr alle paar Wochen aber nahm er mich abends, ehe er ausging, bei der Hand und verschwand stillschweigend mit mir auf den über dem Stall gelegenen Heuboden. Dort vollzog sich alsdann ein seltsamer Straf- und Sühneakt: ich bekam eine Tracht Prügel, ohne da? der Vater oder ich selbst genauer gewu?t h?tte wofür. Es waren stille Opfer am Altar der Nemesis und sie wurden ohne Schelten seinerseits oder Geschrei meinerseits dargebracht, als schuldiger Tribut an eine geheimnisvolle Macht. Immer wenn ich in sp?teren Jahren einmal vom ?blinden Schicksal" reden h?rte, fielen diese mysteri?sen Szenen mir wieder ein und schienen mir eine überaus plastische Darstellung jenes Begriffs zu sein. Ohne es zu wissen, befolgte mein guter Vater dabei die schlichte P?dagogik, die das Leben selbst an uns zu üben pflegt, indem es uns hie und da aus heiteren Lüften ein Donnerwetter sendet, wobei es uns überlassen bleibt nachzusinnen, durch was für Missetaten wir eigentlich die oberen M?chte herausgefordert haben. Leider stellte dies Nachsinnen bei mir sich nie oder nur selten ein, vielmehr nahm ich jene ratenweise Züchtigung ohne die wünschenswerte Selbstprüfung gelassen oder auch trotzig hin und freute mich an solchen Abenden stets, nun wieder meinen Zoll entrichtet und ein paar Wochen Strafpause vor mir zu haben. Viel selbst?ndiger trat ich den Versuchen meines Alten, mich zur Arbeit anzuleiten, entgegen. Die unbegreifliche und verschwenderische Natur hatte in mir zwei widerstrebende Gaben vereinigt: eine ungew?hnliche K?rperkraft und eine leider nicht geringere Arbeitsscheu. Der Vater gab sich alle Mühe einen brauchbaren Sohn und Mithelfer aus mir zu machen, ich aber drückte mich mit allen Chikanen um die mir auferlegten Arbeiten und noch als Gymnasiast hatte ich für keinen der antiken Heroen so viel Mitgefühl wie für Herakles, da er zu jenen berühmten, l?stigen Arbeiten gezwungen ward. Einstweilen kannte ich nichts Sch?neres als mich auf Felsen und Matten oder am Wasser mü?igg?ngerisch herumzutreiben.

Berge, See, Sturm und Sonne waren meine Freunde, erz?hlten mir und erzogen mich und waren mir lange Zeit lieber und bekannter als irgend Menschen und Menschenschicksale. Meine Lieblinge aber, die ich dem gl?nzenden See und den traurigen F?hren und sonnigen Felsen vorzog, waren die Wolken.

Zeigt mir in der weiten Welt den Mann, der die Wolken besser kennt und mehr lieb hat als ich! Oder zeigt mit das Ding in der Welt, das sch?ner ist als Wolken sind! Sie sind Spiel und Augentrost, sie sind Segen und Gottesgabe, sie sind Zorn und Todesmacht. Sie sind zart, weich und friedlich wie die Seelen von Neugeborenen, sie sind sch?n, reich und spendend wie gute Engel, sie sind dunkel, unentrinnbar und schonungslos wie die Sendboten des Todes. Sie schweben silbern in dünner Schicht, sie segeln lachend wei? mit goldenem Rand, sie stehen rastend in gelben, roten und bl?ulichen Farben. Sie schleichen finster und langsam wie M?rder, sie jagen sausend kopfüber wie rasende Reiter, sie h?ngen traurig und tr?umend in bleichen H?hen wie schwermütige Einsiedler. Sie haben die Formen von seligen Inseln und die Formen von segnenden Engeln, sie gleichen drohenden H?nden, flatternden Segeln, wandernden Kranichen. Sie schweben zwischen Gottes Himmel und der armen Erde als sch?ne Gleichnisse aller Menschensehnsucht, beiden angeh?rig - Tr?ume der Erde, in welchen sie ihre befleckte Seele an den reinen Himmel schmiegt. Sie sind das ewige Sinnbild alles Wanderns, alles Suchens, Verlangens und Heimbegehrens. Und so wie sie zwischen Erde und Himmel zag und sehnend und trotzig h?ngen, so h?ngen zag und sehnend und trotzig die Seelen der Menschen zwischen Zeit und Ewigkeit.

O, die Wolken, die sch?nen, schwebenden, rastlosen! Ich war ein unwissendes Kind und liebte sie, schaute sie an und wu?te nicht, da? auch ich als eine Wolke durch's Leben gehen würde - wandernd, überall fremd, schwebend zwischen Zeit und Ewigkeit. Von Kinderzeiten her sind sie mir liebe Freundinnen und Schwestern gewesen. Ich kann nicht über die Gasse gehen, so nicken wir einander zu, grü?en uns und verweilen einen Augenblick Aug' in Auge. Auch verga? ich nicht, was ich damals von ihnen lernte: ihre Formen, ihre Farben, ihre Züge, ihre Spiele, Reigen, T?nze und Rasten, und ihre seltsam irdisch-himmlischen Geschichten.

Namentlich die Geschichte der Schneeprinzessin. Ihr Schauplatz ist das mittlere Gebirg, im Vorwinter, bei warmem Unterwind. Die Schneeprinzessin erscheint mit kleinem Gefolge, aus gewaltiger H?he kommend, und sucht sich einen Rastort in weiten Bergmulden oder auf einer breiten Kuppe aus. Neidisch sieht die falsche Bise die Arglose sich lagern, leckt heimlich gierend am Berg empor und überf?llt sie pl?tzlich wütend und tosend. Sie wirft der sch?nen Prinzessin zerfetzte schwarze Wolkenlappen entgegen, h?hnt sie, krakehlt sie an, m?chte sie verjagen. Eine Weile ist die Prinzessin unruhig, wartet, duldet, und manchmal steigt sie kopfschüttelnd, leise und h?hnisch wieder in ihre H?he zurück. Manchmal aber sammelt sie pl?tzlich ihre ge?ngsteten Freundinnen um sich her, enthüllt ihr blendend fürstliches Angesicht und weist den Kobold mit kühler Hand zurück. Er zaudert, heult, flieht. Und sie lagert sich still, hüllt ihren Sitz weitum in blassen Nebel, und wenn der Nebel sich verzogen hat, liegen Mulden und Kuppel klar und gl?nzend mit reinem, weichem Neuschnee bedeckt.

In dieser Geschichte war so etwas Nobles, etwas von Seele und Triumph der Sch?nheit, das mich entzückte und mein kleines Herz wie ein frohes Geheimnis bewegte.

Bald kam auch die Zeit, da? ich mich den Wolken n?hern, zwischen sie treten und manche aus ihrer Schaar von oben betrachten durfte. Ich war zehn Jahr alt, als ich den ersten Gipfel erstieg, den Sennalpstock, an dessen Fu? unser D?rflein Nimikon liegt. Da sah ich denn zum erstenmal die Schrecken und die Sch?nheiten der Berge. Tiefgerissene Schluchten, voll von Eis und Schneewasser, grüngl?serne Gletscher, scheu?liche Mur?nen, und über allem wie ein Glocke hoch und rund der Himmel. Wenn einer zehn Jahre lang zwischen Berg und See geklemmt gelebt hat und rings von nahen H?hen eng umdr?ngt war, dann vergi?t er den Tag nicht, an dem zum erstenmal ein gro?er, breiter Himmel über ihm und vor ihm ein unbegrenzter Horizont lag. Schon beim Aufstieg war ich erstaunt, die mir von unten her wohlbekannten Schroffen und Felsw?nde so überw?ltigend gro? zu finden. Und nun sah ich, vom Augenblick ganz bezwungen, mit Angst und Jubel pl?tzlich die ungeheure Weite auf mich herein dringen. So fabelhaft gro? war also die Welt! Unser ganzes Dorf, tief unten verloren liegend, war nur noch ein kleiner heller Fleck. Gipfel, die man vom Tale aus für eng benachbart hielt, lagen viele Stunden weit auseinander.

Da fing ich an zu ahnen, da? ich nur erst ein schmales Blinzeln, noch kein gediegenes Schauen von der Welt gehabt hatte und da? da drau?en Berge stehen und fallen und gro?e Dinge geschehen konnten, von denen auch nicht die leiseste Kunde je in unser abgetrenntes Bergloch kam. Zugleich aber zitterte etwas in mir gleich dem Zeiger des Kompasses mit unbewu?tem Streben m?chtig jener gro?en Ferne entgegen. Und nun verstand ich auch die Sch?nheit und Schwermut der Wolken erst ganz, da ich sah, in was für endlose Fernen sie wanderten.

Meine beiden erwachsenen Begleiter lobten mein gutes Steigen, rasteten ein wenig auf der eiskalten Kuppe und lachten über meine fassungslose Freude. Ich aber, nachdem ich mit dem ersten gro?en Staunen fertig war, brüllte vor Lust und Erregung laut wie ein Stier in die klaren Lüfte hinaus. Das war mein erstes, unartikuliertes Lied an die Sch?nheit. Ich war auf einen dr?hnenden Widerhall gefa?t, aber mein Geschrei verklang in die ruhigen H?hen spurlos wie ein schwacher Vogelpfiff. Da war ich sehr besch?mt und hielt mich still.

Dieser Tag hatte irgend ein Eis in meinem Leben gebrochen. Denn nun kam ein Ereignis um das andere. Zun?chst nahm man mich des ?fteren auf Bergfahrten mit, auch auf schwierigere, und ich drang mit sonderbar beklommener Wollust in die gro?en Geheimnisse der H?hen ein. Darauf ward ich zum Gaishirten ernannt. An einer von den Halden, wohin ich gew?hnlich meine Tiere trieb, gab es einen windgeschützten Winkel, von kobaltblauem Enzian und hellrotem Steinbrech überwuchert, das war mir der liebste Platz in der Welt. Das Dorf war von dort aus unsichtbar und auch vom See war nur über Felsen weg ein schmaler, blanker Streifen zu erblicken, dafür brannten die Blumen in lachend frischen Farben, der blaue Himmel lag wie ein Zeltdach auf den spitzigen Schneegipfeln und neben dem feinen Gel?ut der Ziegenglocken t?nte ununterbrochen der nicht weit entfernte Wasserfall. Dort lag ich in der W?rme, staunte den wei?en W?lklein nach und jodelte halblaut vor mich hin, bis die Gaisen meine Tr?gheit bemerkten und sich allerlei verbotene Streiche und Lustbarkeiten leisten wollten. Es gab dabei gleich in den ersten Wochen einen herben Ri? in meine Ph?akenherrlichkeit, als ich mit einer verlaufenen Gais zusammen in eine Klamm abstürzte. Die Gais war tot und mir tat der Sch?del weh, au?erdem ward ich j?mmerlich geprügelt, lief meinen Alten davon und ward unter Beschw?rungen und Wehklagen wieder eingebracht.

Leichtlich h?tten diese Abenteuer meine ersten und letzten sein k?nnen. Dann w?re dies Büchlein ungeschrieben und manche andere Mühe und Torheit ungeschehen geblieben. Ich h?tte vermutlich irgend eine Base geheiratet oder l?ge vielleicht auch irgendwo beiseit ins Gletscherwasser gefroren. Es w?re auch nicht übel. Aber alles kam anders und es steht mir nicht zu das Geschehene mit Ungeschehenem zu vergleichen.

Mein Vater tat jeweils ein wenig kleinen Dienst im Welsd?rfer Kloster. Nun war er einstmals krank und befahl mir ihn dort abzusagen. Das tat ich indessen nicht, sondern entlehnte beim Nachbar Papier und Feder und schrieb einen manierlichen Brief an die Klosterbrüder, gab den der Botenfrau mit und ging auf eigene Faust in den Berg.

N?chste Woche komme ich eines Tags nach hause, da sitzt ein Pater und wartet auf denjenigen, der den sch?nen Brief geschrieben hat. Mir ward etwas b?nglich, aber er lobte mich und suchte meinen Alten zu bereden, da? er mich bei ihm lernen lasse. Der Oheim Konrad war dazumal gerade wieder in Gunst und wurde befragt. Natürlich war er sofort dafür entflammt, da? ich lernen und sp?ter studieren und ein Gelehrter und Herr werden müsse. Der Vater lie? sich überzeugen, und so geh?rte nun auch meine Zukunft zu den gef?hrlichen Oheimsprojekten, gleich dem feuersicheren Backofen, dem Segelschiff und den vielen ?hnlichen Phantastereien.

Es ging sogleich an ein gewaltiges Lernen, zumal in Lateinisch, biblischer Geschichte, Botanik und Geographie. Mir machte das alles vielen Spa? und ich dachte nicht daran, da? das welsche Zeug mich vielleicht Heimat und sch?ne Jahre kosten k?nne. Das Lateinische allein tats auch nicht. Mein Vater h?tte mich zum Bauer gemacht, wenn ich auch die ganzen viri illustres vorw?rts und rückw?rts auswendig gekonnt h?tte. Aber der kluge Mann hatte mir auf den Grund meines Wesens gesehen, wo als Schwerpunkt und Kardinaluntugend meine unbesiegbare Tr?gheit hauste. Ich entrann, wo es nur gehen wollte, der Arbeit und lief statt dessen den Bergen oder dem See nach oder lag seitw?rts versteckt an der Halde, las, tr?umte und faulenzte. In dieser Erkenntnis gab er mich schlie?lich weg.

Dies ist eine Gelegenheit, ein kurzes Wort über meine Eltern zu sagen. Die Mutter war ehedem sch?n gewesen, davon war aber nur der feste, grade Wuchs und die anmutigen, dunklen Augen übrig geblieben. Sie war gro?, überaus kr?ftig, flei?ig und still. Obwohl sie reichlich so klug wie der Vater und an K?rperkraft ihm überlegen war, herrschte sie doch nicht im Hause, sondern lie? das Regiment ihrem Manne. Er war mittelgro?, hatte dünne und fast zarte Glieder und einen hartn?ckigen, schlauen Kopf mit einem Gesicht, das von heller Farbe und ganz voll von kleinen, ungemein beweglichen Falten war. Dazu kam eine kurze, senkrechte Stirnfalte. Sie verdunkelte sich, so oft er die Brauen bewegte, und gab ihm ein gr?mlich leidendes Aussehen; es schien dann, als versuche er sich auf etwas sehr Wichtiges zu besinnen und sei selber ohne Hoffnung je darauf zu kommen. Man h?tte eine gewisse Melancholie an ihm wahrnehmen k?nnen, aber niemand achtete darauf, denn die Bewohner unsrer Gegend sind fast alle von einer stetigen, leichten Trübe des Gemüts befangen, dessen Ursache die langen Winter, die Gefahren, das mühselige Sichdurchschlagen und die Abgeschlossenheit vom Weltleben sind.

Von beiden Eltern habe ich wichtige Stücke meines Wesens übernommen. Von der Mutter eine bescheidene Lebensklugheit, ein Stück Gottvertrauen und ein stilles, wenig redendes Wesen. Vom Vater hingegen eine ?ngstlichkeit vor festen Entschlie?ungen, die Unf?higkeit mit Geld zu wirtschaften und die Kunst viel und mit überlegung zu trinken. Letzteres zeigte sich aber an mir in jenem zarten Alter noch nicht. ?u?erlich hab ich vom Vater die Augen und den Mund, von der Mutter den schweren, dauerhaften Gang und K?rperbau und die z?he Muskelkraft. Vom Vater und von unserer Rasse überhaupt bekam ich ins Leben zwar einen bauernschlauen Verstand, aber auch das trübe Wesen und den Hang zu grundloser Schwermut mit. Da mir bestimmt war mich lange au?erhalb der Heimat bei Fremden herumzuschlagen, w?re es schon besser gewesen, statt dessen einige Beweglichkeit und etlichen frohen Leichtsinn mitzubringen.

So ausgestattet und mit einem neuen Kleide versorgt trat ich die Reise ins Leben an. Die elterlichen Gaben haben sich bew?hrt, denn ich ging und stand in der Welt seither auf eigenen Fü?en. Dennoch mu? irgend etwas gefehlt haben, das auch die Wissenschaft und das Weltleben mir nimmer einbrachte. Denn ich kann heute noch wie je einen Berg zwingen, zehn Stunden marschieren oder rudern und n?tigenfalls einen Mann freih?ndig erschlagen, zum Lebenskünstler aber fehlt mir heute noch so viel wie damals. Der frühe einseitige Umgang mit der Erde und ihren Pflanzen und Tieren hatte wenig soziale F?higkeiten in mir aufkommen lassen und noch jetzt sind meine Tr?ume ein merkwürdiger Beweis dafür, wie sehr ich leider einem rein animalischen Leben zuneige. Ich tr?ume n?mlich sehr oft, ich liege am Meeresstrand als Tier, zumeist als Seehund, und empfinde dabei ein so gewaltiges Wohlbehagen, da? ich beim Erwachen den Wiederbesitz meiner Menschenwürde keineswegs freudig oder mit Stolz, sondern lediglich mit Bedauern wahrnehme.

Ich ward in üblicher Weise mit Freiplatz und Freitisch an einem Gymnasium erzogen und war zum Philologen bestimmt. Niemand wei?, warum. Es gibt kein unnützeres und langweiligeres Fach und keines, das mir ferner lag.

Die Schülerjahre gingen mir rasch dahin. Zwischen Balgereien und Schule kamen Stunden voll Heimweh, Stunden voll frecher Zukunftstr?ume, Stunden voll ehrfürchtiger Anbetung der Wissenschaft. Zwischenein trat auch hier meine angeborene Tr?gheit hervor, trug mir allerlei ?rger und Strafen ein und wich dann irgend einem neuen Enthusiasmus.

?Peter Camenzind," sprach mein Griechischlehrer, ?du bist ein Trotzkopf und Einsp?nner und wirst dir noch einmal den harten Sch?del einrennen." Ich betrachtete den feisten Brillentr?ger, h?rte seine Rede an und fand ihn komisch.

?Peter Camenzind," sprach der Mathematiklehrer, ?du bist ein Genie im Faullenzen und ich bedaure, da? es kein niedrigeres Zeugnis gibt als Null. Ich sch?tze deine heutige Leistung auf minus zweieinhalb." Ich sah ihn an, bedauerte ihn da er schielte, und fand ihn sehr langweilig.

?Peter Camenzind," sagte einmal der Geschichtsprofessor, ?du bist kein guter Schüler, aber du wirst trotzdem einmal ein guter Historiker werden. Du bist faul, aber du wei?t Gro?es und Kleines zu unterscheiden."

Auch das war mir nicht extra wichtig. Dennoch hatte ich vor den Lehrern Respekt, denn ich dachte sie seien im Besitze der Wissenschaft, und vor der Wissenschaft empfand ich eine dunkle, gewaltige Ehrfurcht. Und obschon über meine Faulheit alle Lehrer einig waren, kam ich doch vorw?rts und hatte meinen Platz über der Mitte. Da? die Schule und die Schulwissenschaft ein unzul?ngliches Stückwerk war, merkte ich wohl; aber ich wartete auf sp?ter. Hinter diesen Vorbereitungen und Schulfuchsereien vermutete ich das reine Geistige, eine zweifellose, sichere Wissenschaft des Wahren. Dort würde ich erfahren, was die dunkle Wirrnis der Geschichte, die K?mpfe der V?lker und die bange Frage in jeder einzelnen Seele bedeute.

Noch st?rker und lebendiger war eine andere Sehnsucht in mir. Ich wollte gern einen Freund haben.

Da war ein braunhaariger, ernsthafter Knabe, zwei Jahre ?lter als ich, namens Kaspar Hauri. Er hatte eine sichere und stille Art zu gehen und dazusein, trug den Kopf m?nnlich fest und ernst und sprach nicht viel mit seinen Kameraden. An ihm blickte ich monatelang mit gro?er Verehrung empor, hielt mich auf der Stra?e hinter ihm her und hoffte sehnlich von ihm bemerkt zu werden. Ich war auf jeden Spie?bürger eifersüchtig, den er grü?te, und auf jedes Haus, in das ich ihn eintreten oder aus dem ich ihn kommen sah. Aber ich war zwei Klassen hinter ihm zurück und er fühlte sich vermutlich der seinigen schon überlegen. Es ist nie ein Wort zwischen uns gewechselt worden. Statt seiner schlo? sich ohne mein Zutun ein kleiner, kr?nklicher Knabe an mich an. Er war jünger als ich, schüchtern und unbegabt, hatte aber sch?ne, leidende Augen und Gesichtszüge. Weil er schw?chlich und ein wenig verwachsen war, stand er in seiner Klasse viel Unbilden aus und suchte an mir, der ich stark und angesehen war, einen Beschützer. Bald ward er so krank, da? er die Schule nicht mehr besuchen konnte. Er fehlte mir nicht und ich verga? ihn rasch.

Nun war in unserer Klasse ein ausgelassener Blondkopf, ein Tausendkünstler, Musiker, Mime und Hanswurst. Ich gewann seine Freundschaft nicht ohne Mühe und der flotte kleine Altersgenosse benahm sich stets ein klein wenig g?nnerhaft gegen mich. Immerhin hatte ich nun einen Freund. Ich suchte ihn in seinem Stüblein auf, las ein paar Bücher mit ihm, machte ihm die griechischen Aufgaben und lie? mir dafür im Rechnen helfen. Auch gingen wir manchmal miteinander spazieren und müssen dann wie B?r und Wiesel ausgesehen haben. Er war immer der Sprecher, der Lustige, Witzige, nie Verlegene, und ich h?rte zu, lachte und war froh einen so burschikosen Freund zu haben.

Eines Nachmittags aber kam ich unversehens dazu, wie der kleine Charlatan im Schulhausgang einigen Kameraden eine von seinen beliebten komischen Aufführungen zum Besten gab. Soeben hatte er einen Lehrer nachgemacht, nun rief er: ?Ratet wer das ist!" und begann laut ein paar Homerverse zu lesen. Dabei kopierte er mich sehr getreu, meine verlegene Haltung, mein ?ngstliches Lesen, meine oberl?ndisch rauhe Aussprache, und auch meine st?ndige Geberde der Aufmerksamkeit, das Blinzeln und das Schlie?en des linken Auges. Es sah sich sehr komisch an und war so witzig und lieblos als m?glich gemacht.

Als er das Buch schlo? und den verdienten Beifall einstrich, trat ich von hinten an ihn her und nahm Rache. Worte fand ich nicht, aber ich brachte meine ganze Entrüstung, Scham und Wut in einer einzigen, riesigen Ohrfeige pr?gnant zum Ausdruck. Gleich darauf begann die Lektion und der Lehrer bemerkte das Wimmern und die rotgeschwollene Backe meines ehemaligen Freundes, welcher obendrein sein Liebling war.

?Wer hat dich so zugerichtet?"

?Der Camenzind."

?Camenzind vortreten! Ist das wahr?"

?Jawohl."

?Warum hast du ihn geschlagen?"

Keine Antwort.

?Hast du keinen Grund dazu gehabt?"

?Nein."

Also wurde ich energisch bestraft und schwelgte stoisch in der Wonne des unschuldig Gemarterten. Da ich aber kein Stoiker noch Heiliger, sondern ein Schulbub war, streckte ich nach erlittener Strafe meinem Feind die Zunge heraus so lang sie war. Entsetzt fuhr der Lehrer auf mich los.

?Sch?mst du dich nicht? Was soll das hei?en?"

?Das soll hei?en, da? der dort ein gemeiner Kerl ist und da? ich ihn verachte. Und ein Feigling ist er auch noch."

So endete meine Freundschaft mit dem Mimen. Er fand keinen Nachfolger und ich habe die Jahre der reifenden Knabenzeit ohne Freund verbringen müssen. Aber ob auch meine Anschauung des Lebens und der Menschen seither sich einige mal ver?ndert hat, jener Ohrfeige erinnere ich mich nie ohne tiefe Befriedigung. Hoffentlich hat auch der Blonde sie nicht vergessen.

Mit siebzehn Jahren verliebte ich mich in eine Advokatentochter. Sie war sch?n und ich bin stolz darauf, da? ich mein Leben lang immer nur in sehr sch?ne Frauenbilder verliebt war. Was ich um sie und um andere litt, erz?hle ich ein andermal. Sie hie? R?si Girtanner und ist heute noch der Liebe ganz anderer M?nner, als ich bin, würdig.

Damals brauste mir die ungebrauchte Jugendkraft in allen Gliedern. Ich lie? mich mit meinen Kameraden in tolle Raufh?ndel ein, fühlte mich stolz als besten Ringer, Ballschl?ger, Wettl?ufer und Ruderer, und war nebenher best?ndig schwermütig. Das hing kaum mit der Liebesgeschichte zusammen. Es war einfach die sü?e Schwermut des Vorfrühlings, die mich st?rker als andere anfa?te, so da? ich Freude an traurigen Vorstellungen, an Todesgedanken und an pessimistischen Ideen hatte. Natürlich fand sich auch der Kamerad, der mir Heines Buch der Lieder in einer billigen Ausgabe zu lesen gab. Es war eigentlich kein Lesen mehr, - ich go? in die leeren Verse mein volles Herz, ich litt mit, dichtete mit und geriet in ein lyrisches Schw?rmen hinein, das mir vermutlich zu Gesichte stand wie dem Ferkel die Chemisette. Bis dahin hatte ich von aller ?sch?nen Literatur" keine Ahnung gehabt. Nun folgte Lenau, Schiller, dann Goethe und Shakespeare, und pl?tzlich war mir der blasse Schemen Literatur zu einer gro?en Gottheit geworden.

Mit sü?em Schauder fühlte ich aus diesen Büchern mir die würzig kühle Luft eines Lebens entgegen str?men, das nie auf Erden gewesen und doch wahrhaftig war und nun in meinem ergriffenen Herzen seine Wellen schlagen und seine Schicksale erleben wollte. In meinem Lesewinkel auf der Dachbodenkammer, wohin nur das Stundenschlagen vom nahen Turmgestühl und das trockene Klappern der daneben nistenden St?rche drang, gingen die Menschen Goethes und Shakespeares bei mir ein und aus. Das G?ttliche und L?cherliche alles Menschenwesens ging mir auf: das R?tsel unseres zwiesp?ltigen, unb?ndigen Herzens, die tiefe Wesenheit der Weltgeschichte und das m?chtige Wunder des Geistes, der unsre kurzen Tage verkl?rt und durch die Kraft des Erkennens unser kleines Dasein in den Kreis des Notwendigen und Ewigen erhebt. Wenn ich den Kopf durch die schmale Fensterluke steckte, sah ich die Sonne auf D?cher und schmale Gassen scheinen, h?rte verwundert die kleinen Ger?usche der Arbeit und Allt?glichkeit verworren heraufrauschen und fühlte das Einsame und Geheimnisvolle meines von gro?en Geistern erfüllten Dachwinkels wie ein sonderbar sch?nes M?rchen mich umgeben. Und allm?hlich, je mehr ich las und je wunderlicher und fremder mich das Hinunterblicken auf D?cher, Gassen und Alltag ergriff, tauchte des ?fteren zaghaft und beklemmend das Gefühl in mir auf, auch ich sei vielleicht ein Seher und die vor mir ausgebreitete Welt warte auf mich, da? ich einen Teil ihrer Sch?tze h?be, den Schleier des Zuf?lligen und Gemeinen davon l?se und das Entdeckte durch Dichterkraft dem Untergang entrei?e und verewige.

Schamhaft fing ich an ein wenig zu dichten und es füllten sich allm?hlich einige Hefte mit Versen, Entwürfen und kleinen Erz?hlungen an. Sie sind untergegangen und waren vermutlich wenig wert, bereiteten mir aber Herzklopfen und heimliche Wonne genug. Nur langsam folgte diesen Versuchen Kritik und Selbstprüfung nach, und erst im letzten Schuljahr trat die notwendige erste, gro?e Entt?uschung ein. Ich hatte schon begonnen mit meinen Erstlingsgedichten aufzur?umen und meine Schreiberei überhaupt mit Mi?trauen zu betrachten, als mir durch Zufall ein paar B?nde Gottfried Keller in die H?nde fielen, die ich sogleich zweimal und dreimal hintereinander las. Da sah ich in pl?tzlicher Erkenntnis, wie fern meine unreifen Tr?umereien der echten, herben, wahrhaftigen Kunst gewesen waren, verbrannte meine Gedichte und Novellen und blickte nüchtern und traurig mit peinlichen Katzenjammergefühlen in die Welt.

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