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Der Fall Deruga
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Der Fall Deruga by Ricarda Huch

Chapter 1 No.1

?Wer ist der Anwalt, der mit Justizrat Fein hereingekommen ist?? fragte eine Dame im Zuschauerraum ihren Mann, ?und warum hat der Angeklagte zwei Anw?lte? Fein ist allerdings wohl nur ein Schaustück.?

?Wenn der Betreffende ein Anwalt w?re, liebes Kind, würde er einen Talar tragen,? antwortete der Gefragte vorwurfsvoll. ?Aber wer es ist, kann ich dir auch nicht sagen.? Ein vor dem Ehepaar sitzender Herr drehte sich um und erkl?rte, der fragliche Herr sei der Angeklagte Dr. Deruga.

?Ist das m?glich?? rief die Dame lebhaft, ?wissen Sie das bestimmt??

Der alte Herr lachte vergnügt. ?So bestimmt wie ich wei?, da? ich der Musikinstrumentenmacher Reichardt vom Katzentritt bin; der Herr Doktor wohnt n?mlich bei mir.?

Die Dame machte gro?e Augen. ?L??t man denn einen M?rder frei herumlaufen?? fragte sie. ?Ich dachte, er w?re im Gef?ngnis. Ist es Ihnen nicht unheimlich, einen solchen Menschen in Ihrer Wohnung zu haben??

?Ja, sehen Sie, gn?dige Frau,? sagte der alte Mann, ?der Herr Justizrat Fein hat ihn bei mir eingeführt, weil er mich schon lange kennt und seinen Klienten gut versorgt wissen wollte, und wenn der Herr Justizrat so viel Vertrauen in mich setzt, da? er seine Geigen und Fl?ten von mir reparieren und sein T?chterchen Unterricht im Zitherspielen bei mir nehmen l??t, so schickt es sich, da? ich auch wieder Vertrauen zu ihm habe. Und er hat mir seinen Klienten w?rmstens empfohlen, der sich bis jetzt als ein lieber, gutartiger Mensch gezeigt hat, wenn auch etwas wunderlich.?

?Du darfst nicht vergessen, liebes Kind,? sagte der Ehemann, ?da? ein Angeklagter noch kein Verurteilter ist.?

?Sehr richtig, sehr richtig,? sagte der Musikinstrumentenmacher und wollte eben allerlei merkwürdige F?lle von Justizirrtümern erz?hlen, als das Erscheinen der Geschworenen seine Aufmerksamkeit ablenkte.

Sie finde es doch ungeh?rig, flüsterte die junge Dame ihrem Manne zu, da? ein des Mordes Verd?chtiger sich so frei bewegen dürfe, noch dazu einer, der so aussehe, als ob er zu jedem Verbrechen f?hig w?re.

?Man soll sich hüten, nach dem ?u?eren zu urteilen, liebes Kind,? sagte der Ehemann. ?Aber abgesehen davon würde ich auch diesem Menschen nicht über den Weg trauen. Es ist merkwürdig, wie leichtgl?ubig und wie ungeschickt im Auslegen von Physiognomien das Volk ist.?

Die meisten Zuschauer hatten denselben ungünstigen Eindruck von Dr. Deruga empfangen, der durch Nachl?ssigkeit in Kleidung und Haltung und mit seinen neugierig belustigten Blicken, die den Saal durchwanderten, der Majest?t und Furchtbarkeit des Ortes zu spotten schien.

?Ich dachte, er h?tte schwarzes, krauses Haar und Feueraugen,? bemerkte die junge Frau tadelnd gegen ihren Mann.

?Aber, Kindchen,? entgegnete dieser, ?wir haben doch auch nicht alle blaue Augen und blondes Haar.?

?Er stammt aus Oberitalien,? mischte sich ein Herr ein, ?wo der germanische Einschlag sich bemerkbar macht.?

Ein anderer fügte hinzu, er vertrete doch einen durchaus italienischen Typus, n?mlich den der verschlagenen, heimtückischen, rachsüchtigen Welschen, wie er seit dem frühen Mittelalter in der Vorstellung der Deutschen gelebt habe.

Unterdessen war ein Gerichtsdiener an den Angeklagten herangetreten und hatte ihn aufgefordert, sich auf der Anklagebank niederzulassen, was er folgsam tat, um sein Gespr?ch mit dem Justizrat Fein von dort aus fortzusetzen.

?Sehen Sie, da kommt der J?ger vor dem Herrn, Dr. Bernburger,? sagte der Justizrat, auf einen jungen Anwalt blickend, der eben den Zuschauerraum betrat. ?Den hat die Baronin Truschkowitz auf Ihre Spuren geheftet, und eine gute Spürnase hat er, wie Sie sehen. Er ist Ihr gef?hrlichster Feind, der Staatsanwalt ist nur ein Popanz.?

Deruga betrachtete Dr. Bernburger, der angelegentlichst in seine Papiere vertieft schien.

?Ich glaube, er ist Ihnen ebenso gef?hrlich wie mir,? sagte er dann mit freundlichem Spott, die gro?e, bequeme Gestalt des Justizrats betrachtend. ?Eigentlich gefiele mir der Bernburger ganz gut, wenn er nicht ein so gemeiner Charakter w?re.?

Der Justizrat wendete sich um und sagte, den Arm auf das Gel?nder stützend, das die Anklagebank abschlo?: ?Bringen Sie mich jetzt nicht zum Lachen, Sie verzweifelter Italiener! Wir haben alle Ursache, uns ein Beispiel an seinen Geiermanieren zu nehmen.?

?Er hat wirklich etwas von einem Raubvogel,? sagte Deruga, ?ein feiner Kopf, so m?chte ich aussehen. Sehe ich ihm nicht ?hnlich??

?Benehmen Sie sich ?hnlich,? sagte der Justizrat, ?und halten Sie Ihre Gedanken zusammen! Mensch, Ihre Sache ist nicht so sicher, wie Sie glauben. Der Bernburger hat zweifellos Material im Hinterhalt, mit dem er uns überrumpeln will; also passen Sie auf!?

?Aber ja,? sagte Deruga ein wenig ungeduldig. ?Ihren Kopf behalten Sie auf alle F?lle, und an meinem braucht Ihnen nicht mehr zu liegen als mir.?

Jetzt flogen die Türen im Hintergrunde des Saales auf, und der Vorsitzende des Gerichts, Oberlandesgerichtsrat Dr. Zeunemann, trat ein, dem die beiden Beisitzer und der Staatsanwalt folgten. Der Luftzug hob den Talar des rasch Vorw?rtsschreitenden, so da? seine stramme und stattliche Gestalt sichtbar wurde. Er grü?te mit einer Geb?rde, die weder herablassend noch vertraulich war und eine angemessene Mischung von Ehrerbietung und Zuversicht einfl??te. Seine Pers?nlichkeit erfüllte den b?nglich feierlichen Raum mit einer gewissen Heiterkeit, insofern man die Empfindung bekam, es werde sich hier nichts ereignen, was nicht durchaus in der Ordnung w?re. Er rieb, nachdem er sich gesetzt hatte, seine sch?nen, breiten, wei?en H?nde leicht aneinander und ging dann an das Gesch?ft, indem er die Auswahl der Geschworenen besorgte. Es ging glatt und flott voran, jeder fühlte sich von einer wohlt?tigen Macht an seinen Platz geschoben.

?Meine Herren Geschworenen,? begann er, ?es handelt sich heute um einen etwas verwickelten Fall, dessen Vorgeschichte ich Ihnen kurz zusammenfassend vorführen will.

Am 2. Oktober starb hier in München, infolge eines Krebsleidens, wie man annahm, Frau Mingo Swieter, geschiedene Frau Deruga. Sie hatte nach ihrer vor siebzehn Jahren erfolgten Scheidung von Deruga ihren M?dchennamen wiederangenommen. In ihrem Testament, das Anfang November er?ffnet wurde, hatte sie ihren geschiedenen Gatten, Dr. Deruga, zum alleinigen Erben ihres auf etwa vierhunderttausend Mark sich belaufenden Verm?gens ernannt, mit Beiseitesetzung ihrer Verwandten, von denen die Gutsbesitzersgattin Baronin Truschkowitz, eine Kusine, die n?chste war. Auf das Betreiben der Baronin Truschkowitz und auf gewisse zureichende Verdachtsgründe hin, die Ihnen bekannt sind, veranla?te das Gericht die Exhumierung der Leiche, und es wurde festgestellt, da? die verstorbene Frau Swieter nicht infolge ihrer Krankheit, sondern eines furchtbaren Giftes, des Curare, gestorben war.

Als dem seit siebzehn Jahren in Prag ans?ssigen Dr. Deruga das Gerücht von einem gegen ihn im Umlauf befindlichen Verdacht zu Ohren kam, reiste er hierher, um zu erfahren, wer seine Verleumder, wie er sie nannte, w?ren, und sie zu verklagen. Es wurde ihm mitgeteilt, da? das Gericht bereits den Beschlu? gefa?t habe, die Anklage auf Mord gegen ihn zu erheben, und da? er seine Anklage bis zur Beendigung des Prozesses verschieben müsse. Unter diesen besonderen Umst?nden, da der Angeklagte sich gewisserma?en selbst gestellt hatte, wurde angenommen, da? Fluchtverdacht nicht vorliege, und von einer Verhaftung einstweilen abgesehen. Verd?chtig machte den Angeklagten von vornherein, da? er sich in bedeutenden finanziellen Schwierigkeiten befand. Ferner belastete ihn die Tatsache, da? er am Abend des 1. Oktober vergangenen Jahres eine Fahrkarte nach München l?ste und erst am Nachmittag des 3. Oktober nach Prag in seine Wohnung zurückkehrte. Einen genügenden Alibibeweis vermochte der Angeklagte nicht zu erbringen.

Dies sind also die Hauptgründe, die das Gericht bewogen haben, die Anklage auf Totschlag zu erheben. Es wird angenommen, da? Deruga seine geschiedene Frau aufsuchte, um Geld von ihr zu erbitten, beziehungsweise zu erpressen, und da? er sie bei dieser Gelegenheit, irgendwie gereizt, vielleicht durch eine Weigerung, t?tete. Allerdings scheint der Umstand, da? Deruga Gift bei sich gehabt haben mu?, für einen überlegten Plan zu sprechen. Allein das Gericht hat der M?glichkeit Raum gegeben, der verzweifelte Spieler habe damit sich selbst vernichten wollen, wenn sein letzter Versuch mi?l?nge, und nur in einem unvorgesehenen Augenblick der Erregung davon Gebrauch gemacht.?

W?hrend des letzten Satzes hatte der Staatsanwalt vergebens versucht, durch Verdrehungen seines hageren K?rpers und Deutungen seines knotigen Zeigefingers die Aufmerksamkeit des Vorsitzenden auf sich zu lenken. ?Verzeihung,? sagte er, indem er seinem langen, wei?en Gesicht einen sü?lichen Ausdruck zu geben suchte, ?ich m?chte gleich an dieser Stelle betonen, da? ich pers?nlich dieser M?glichkeit nicht Raum gebe. Warum h?tte der Mann es denn so eilig mit dem Selbstmorde gehabt? Er amüsierte sich viel zu gut im Leben, um es so Hals über Kopf wegzuwerfen.

Ferner m?chte ich darauf hinweisen, da? der Angeklagte auf das erstmalige Befragen des Untersuchungsrichters die abscheuliche Untat eingestand, oder, besser gesagt, sich ihrer rühmte, um sie mit ebenso gro?er Dreistigkeit hernach zu leugnen.?

?Jawohl, jawohl, wir kommen darauf zurück,? sagte der Vorsitzende mit einer Handbewegung gegen den Staatsanwalt, wie wenn ein Kapellmeister etwa einen vorlauten Bl?ser beschwichtigt. ?Ich will zun?chst den Angeklagten vernehmen.?

?Sie müssen aufstehen,? flüsterte der Justizrat seinem Klienten zu, der mit schl?friger Miene den Saal und das Publikum betrachtete.

?Aufstehen, ich?? entgegnete dieser erstaunt und beinahe entrüstet. ?Nun also auch das. Stehen wir auf,? fuhr er fort, erhob sich langsam und heftete einen scharf durchdringenden Blick auf den Pr?sidenten; man h?tte meinen k?nnen, er sei ein Examinator und Dr. Zeunemann ein zu prüfender Kandidat.

?Sie hei?en Sigismondo Enea Deruga,? begann der Vorsitzende das Verh?r, die beiden klangvollen Vornamen durch eine ganz geringe Dosis von Pathos hervorhebend, die genügte, die Zuh?rer zum Lachen zu bringen. Deruga warf einen stechenden Blick in die Runde. ?Ist es hier etwa ein Verbrechen, nicht Johann Schulze oder Karl Müller zu hei?en?? sagte er.

?Beantworten Sie bitte schlechtweg meine Fragen,? sagte Dr. Zeunemann kühl. ?Sie hei?en Sigismondo Enea Deruga, sind in Bologna geboren und sechsundvierzig Jahre alt. Stimmt das??

?Jawohl.?

?Sie haben in Bologna, Padua und Wien Medizin studiert und sich erst in Linz, dann in Wien niedergelassen, nachdem Sie dort das Heimatrecht erworben hatten. Stimmt das??

?Es w?re wirklich eine Schande,? sagte Deruga, ?wenn Sie nach vier Monaten nicht einmal das richtig herausgebracht h?tten.?

?Ich erinnere Sie nochmals, Angeklagter,? sagte der Vorsitzende, den das sich erhebende Gel?chter ein wenig ?rgerte, ?da? Sie sich an die kurze und klare Beantwortung der an Sie gerichteten Fragen zu halten haben. Es ist Ihre Schuld, da? sich die Voruntersuchung so lange hingezogen hat. Ich ergreife die Gelegenheit, Ihnen einen ernstlichen Vorhalt zu machen. Sie befolgen augenscheinlich den Grundsatz, das Gericht durch Ungeh?rigkeiten und Wunderlichkeiten hinzuhalten und irrezuführen. Sie verschlimmern dadurch Ihre Lage, ohne Ihren Zweck zu erreichen. Die Untersuchung nimmt ihren sicheren Gang trotz aller Steine, die Sie auf ihren Weg werfen. Sie stehen unter einer schweren Anklage und t?ten besser, anstatt die gegen Sie zeugenden Momente durch ungeb?rdiges und zügelloses Betragen zu verst?rken, den Gerichtshof und die Herren Geschworenen durch Aufrichtigkeit in ihrer dornigen Arbeit zu unterstützen und für sich einzunehmen. Sie befinden sich in einem Lande, wo die Justiz ihres verantwortungsvollen Amtes mit unerschütterlicher Unbestechlichkeit und Unparteilichkeit waltet. Der H?chste und der Niedrigste findet bei uns nicht mehr und nicht weniger als Gerechtigkeit. Wir erwarten dagegen vom H?chsten wie vom Niedrigsten diejenige Ehrfurcht, die einer so heiligen und würdigen Institution zukommt. Der Gebildete sollte sie uns freiwillig darbringen; aber im Notfall wissen wir sie zu erzwingen.?

?Ja, ja,? sagte Deruga gutmütig, ?nur zu, ich werde schon antworten.?

Dr. Zeunemann hielt es für besser, es dabei bewenden zu lassen, und fuhr fort: ?Sie verheirateten sich im Jahre 18.. mit Mingo Swieter aus Lübeck, erzielten aus dieser Ehe ein Kind, eine Tochter, die vierj?hrig starb, und kurz darauf, vor jetzt siebzehn Jahren, wurde die Ehe geschieden. Als Grund ist b?swillige Verlassung von seiten der Frau angegeben, und zwar hat Frau Swieter das Wiener Klima vorgeschützt, welches sie nicht vertragen k?nne. In Wirklichkeit sollen Ihr unvertr?glicher Charakter und Ihr unberechenbares Temperament, das zu Gewalttaten neigt, Ihre Frau zu diesem Schritt veranla?t haben.?

Da Dr. Zeunemann bei diesen Worten fragend zu Dr. Deruga hinübersah, sagte dieser: ?Es wird das beste sein, wenn Sie sich schlechtweg an die in den Akten befindlichen Angaben halten.?

Der Vorsitzende unterdrückte eine Anwandlung zu lachen und fuhr gelassen fort: ?Bald nach erfolgter Scheidung zogen Sie von Wien nach Prag und übten dort Ihre Praxis aus, w?hrend Frau Swieter sich in München niederlie?, wo sie einen Teil ihrer Jugendjahre verlebt hatte. Auf weitere Daten werden wir gelegentlich zurückkommen. Erz?hlen Sie uns jetzt, was Sie am 1. Oktober des vorigen Jahres getan haben.?

?Da ich kein Tagebuch führe,? sagte Dr. Deruga laut, ?noch meine t?glichen Verrichtungen durch einen Kinematographen oder ein Grammophon aufnehmen lasse, ist es mir leider unm?glich, Ihnen den Verlauf des Tages mit mathematischer Genauigkeit wiederzugeben. Ich werde eben gefrühstückt, einige Patienten besucht, zu Mittag gegessen und hernach eine Stunde im Café gesessen haben. Dann werde ich in der Sprechstunde mehrere Exemplare der mir sehr unsympathischen Gattung Mensch untersucht haben. Gegen Abend ging ich aus, um eine mir befreundete, hochanst?ndige Dame zu besuchen. In der N?he des Bahnhofs begegnete ich einem Kollegen, der mich fragte, ob ich auch in den ?rztlichen Verein ginge. Ich sagte, ich k?nne leider nicht, da ich verreisen müsse. Worauf er mich bis zum Bahnhof begleitete. Ich nahm aufs Geratewohl eine Karte nach München, weil ich ja sonst meine Lüge h?tte zugestehen müssen, und auch weil mir eingefallen war, da? auf diese Weise die mir befreundete Dame sicher w?re, nicht kompromittiert zu werden.?

?Weigern Sie sich nach wie vor,? fragte Dr. Zeunemann, ?den Namen dieser hochanst?ndigen Dame zu nennen??

?Ich habe ja schon gesagt, da? mir daran liegt, sie nicht zu kompromittieren,? antwortete Deruga.

?Ich gebe Ihnen zu bedenken, Herr Deruga,? sagte Dr. Zeunemann warnend, ?da? Ihre Ritterlichkeit auf sehr wackeligen Fü?en steht. Sollte eine Dame zulassen, da? sich ein Freund um ihretwillen in solche Gefahr begibt? Da m?chte man schon lieber annehmen, da? diese Dame gar nicht existiert. Die ganze Geschichte, die Sie vorbringen, entbehrt der Wahrscheinlichkeit. Da? Sie eine Dame besuchten und Tage und N?chte bei ihr zubrachten, w?re an sich bei Ihrer Lebensführung nicht unglaublich. Auch das mag hingehen, da? Sie den Wunsch hatten, sie nicht zu kompromittieren, aber das Mittel, das Sie zu diesem Zweck gew?hlt haben wollen, kann man nur als ungeeignet und l?cherlich bezeichnen. Jemand, der sich in so schlechter finanzieller Lage befindet wie Sie, gibt nicht zweiunddrei?ig Mark für eine Fahrkarte aus, die er nicht braucht.?

?Einunddrei?ig Mark fünfundsiebzig Pfennig,? verbesserte Deruga.

?Die Karte von Prag nach München kostet zweiunddrei?ig Mark,? sagte Dr. Zeunemann scharf.

?Der umgekehrte Weg ist fünfundzwanzig Pfennige billiger,? beharrte Deruga.

?Lassen wir den Wortstreit,? sagte Dr. Zeunemann. ?Man wirft auch einunddrei?ig Mark und fünfundsiebzig Pfennige nicht fort, wenn man in Geldverlegenheiten ist.?

?Ein verst?ndiger Deutscher wohl nicht,? entgegnete Deruga, ?aber ich habe gr??ere Dummheiten in meinem Leben gemacht als diese. übrigens war ich nicht in Geldverlegenheit, ich hatte nur Schulden.?

Der Staatsanwalt rang die H?nde und wendete die Blicke nach oben, wie wenn er den Himmel zum Zeugen einer solchen Verwilderung anrufen wollte. Dann bat er um das Wort und fragte, wie es zugehe, da? der Angeklagte genug Geld für eine so unvorhergesehene Reise bei sich gehabt h?tte.

Statt der Antwort griff Deruga in seine Westentasche, zog eine Handvoll Geld hervor und z?hlte: ?Sechzig, dreiundsechzig, siebzig, vierundsiebzig Mark. Sie sehen, ich k?nnte auf der Stelle nach Prag reisen, wenn ich es nicht vorz?ge, in Ihrer angenehmen Vaterstadt zu bleiben.?

?Warum bezahlten Sie Ihre Schulden nicht, wenn Sie Geld hatten?? rief der Staatsanwalt, dessen Stimme, wenn er sich aufregte, einen kreischenden Ton annahm.

?O, dazu reichte es bei weitem nicht,? lachte Deruga. ?Ich hatte nur so viel, um meine t?glichen Bedürfnisse zu befriedigen.?

Der Vorsitzende erkl?rte diese Zwischenfragen durch eine Handbewegung für beendet. ?Sie bleiben also dabei, Angeklagter,? fragte er, ?da? Sie zum Schein eine Fahrkarte nach München l?sten. Was brachte Sie gerade auf München??

?Das ist eine schwierige Frage,? sagte Deruga. ?H?tte ich eine Karte nach Frankfurt oder Wien genommen, k?nnten Sie sie ebensogut stellen. Vielleicht ist ein Psychoanalytiker anwesend und k?nnte uns interessante Aufschlüsse über die Gedankenassoziation geben, und ob sie gefühlsbetont war oder nicht. Meine Spezialit?t sind Nasen-, Hals- und Rachenkrankheiten.?

?Was taten Sie, nachdem Sie die Karte gel?st hatten?? fragte der Vorsitzende weiter.

?Ich stellte mich an die Barriere,? erz?hlte Deruga, ?ging, als sie ge?ffnet wurde, an den Zug, stieg aber nicht ein, sondern ging mittels einer vorher gel?sten Perronkarte zurück. Dann suchte ich die schon ?fters genannte Dame auf, bei der ich bis zum Nachmittag des 3. Oktober blieb.?

?Die Unwahrscheinlichkeiten h?ufen sich,? sagte Dr. Zeunemann. ?Welcher Arzt wird ohne zwingende Gründe anderthalb Tage von seiner Praxis wegbleiben??

?Ich bin der Ansicht,? sagte Deruga, ?da? nicht ich für die Praxis da bin, sondern da? die Praxis für mich da ist.?

?Ein bedenklicher Grundsatz für einen Arzt,? meinte Dr. Zeunemann.

?Warum?? antwortete Deruga leichthin. ?Die meisten Patienten k?nnen sehr gut ein paar Tage warten, die übrigen brauchten überhaupt nicht zu kommen. Wichtige F?lle hatte ich damals nicht.?

?Ihre Patienten waren allerdings nicht verw?hnt,? sagte Dr. Zeunemann. ?In den letzten Jahren hatten Sie sogar eine Anzahl verloren, weil sie nachl?ssig und unaufmerksam in der Führung Ihrer Praxis waren. Immerhin war es selbst an Ihnen auffallend, da? Sie au?er der Zeit, ohne Abmeldung, zwei Tage abwesend waren. Sie kamen nach Ihrer eigenen Aussage, die von Ihrer Haush?lterin best?tigt wurde, am 3. Oktober kurz vor vier Uhr wieder in Ihrer Wohnung an. Beil?ufig sei bemerkt, da? der von hier kommende Schnellzug um drei Uhr zwanzig Minuten in Prag eintrifft. Ihre Sprechstunde war noch nicht vorüber, und es warteten zwei geduldige Patienten, die sich von Ihrer Hausdame mit der Aussicht auf Ihr baldiges Erscheinen hatten vertr?sten lassen. Sie weigerten sich aber, diese gutmütigen Herrschaften, die einiger Rücksicht wohl wert gewesen w?ren, anzunehmen, weil Sie, so sagten Sie zu Ihrer Haush?lterin, müde w?ren und sich zu Bett legen wollten. Ihr Aufenthalt bei der in ihrer Tugend so heiklen Dame mu? also sehr anstrengend gewesen sein.?

?Ich finde Frauen immer anstrengend,? sagte Deruga, ?besonders wenn sie dumm sind.?

?Nehmen wir also an,? sagte der Vorsitzende, w?hrend der Staatsanwalt die H?nde rang und seine unter diabolisch geschw?nzten Brauen fast verschwindenden Augen zum Himmel richtete, ?da? die Ihnen befreundete Dame ebenso dumm wie tugendhaft ist! Gehen wir nun zu einem anderen wichtigen Punkt über! Wollen Sie erz?hlen, wann und wie Sie von dem Inhalt des Testamentes in Kenntnis gesetzt wurden, durch welches die verstorbene Frau Swieter Sie zum Erben ihres Verm?gens einsetzte!?

?Anfang November,? sagte Deruga, ?das Datum habe ich mir nicht gemerkt, durch die zust?ndige Beh?rde.?

?Sie sollen?, sagte Dr. Zeunemann, ?Ihr Erstaunen und Ihre Freude lebhaft ge?u?ert haben. Ich bemerke,? wiederholte er mit Nachdruck gegen die Geschworenen, ?da? andere Personen dies bezeugen: Erstaunen und Freude.?

?O, edler Richter, wack'rer Mann,? sagte Deruga l?chelnd.

?Bitte Zwischenbemerkungen zu unterlassen,? sagte der Vorsitzende. ?Es ist bereits halb zw?lf Uhr, und ich m?chte bis zur Mittagspause mit Ihrem Verh?r zu einem vorl?ufigen Ende kommen. Erz?hlen Sie uns bitte, wann und wie Ihnen zuerst etwas von dem gegen Sie erhobenen Verdacht zu Ohren kam!?

?Durch einen sehr anst?ndigen Menschen,? begann Deruga, ?sehr anst?ndig und achtungswert, obgleich er nur ein roher italienischer Weinh?ndler ist. Der Mann hei?t Tommaso Verzielli und kam vor fünfzehn Jahren als ein armer Teufel zu mir, nachdem er eine fünfj?hrige Gef?ngnisstrafe verbü?t hatte. Er hatte n?mlich einen Polizisten niedergestochen, der eine arme alte Frau verhaften wollte, weil sie in einem B?ckerladen ein Brot genommen hatte. Er war sehr verzagt und wollte nach Italien zurück, denn unter Deutschen, sagte er, würde er doch nicht aus dem Gef?ngnis herauskommen, weil er fortw?hrend Dinge mit ansehen mü?te, wobei ihm das Blut zu Kopfe stiege. Ich sagte, das würde in Italien nicht anders sein, und redete ihm zu, er sollte die Menschen sich untereinander zerrei?en lassen, sie w?ren einander wert, und es w?re um keinen schade. Er solle heiraten und nur noch für Frau und Kinder arbeiten und sorgen, und au?erdem gab ich ihm den Rat, einen Handel mit italienischen Weinen und anderen Lebensmitteln anzufangen, und scho? ihm ein kleines Kapital dazu vor. Das hat er mir l?ngst zurückgestellt, denn durch Flei? und Intelligenz brachte er sich schnell in die H?he, aber er widmet mir immer noch eine Dankbarkeit, als ob ich ihm t?glich neu das Leben schenkte.

Dieser Verzielli also kam Mitte November am sp?ten Abend in voller Aufregung zu mir gelaufen und erz?hlte mir, der italienische Konsul, Cavaliere Faramengo, ein guter alter Herr, aber etwas schwachsinnig, sei bei ihm gewesen - Verzielli hat n?mlich jetzt ein sehr feines Restaurant - und habe sich unter der Hand nach mir erkundigt und als tiefstes Geheimnis verraten, da? ich als M?rder meiner geschiedenen Frau verhaftet werden sollte. Der gute Mensch war au?er sich und bot mir sein ganzes Verm?gen an, wenn ich nach Amerika fliehen wollte. 'Deruga und fliehen? Da kennst du Deruga schlecht, guter Freund,' sagte ich und lief sofort, trotz Verziellis Flehen, zum italienischen Konsul. Der arme alte Herr hat fast einen Schlaganfall bekommen, so heftig stellte ich ihn zur Rede, und da ich von ihm keine genügende Auskunft bekam, reiste ich hierher, um den Ursprung des infamen Gerüchtes kennenzulernen.?

?Es mu?te Ihnen mitgeteilt werden,? fiel Dr. Zeunemann ein, ?da? das Gericht bereits beschlossen h?tte, die Anklage auf Mord gegen Sie zu erheben, und da? Sie eine etwaige Beleidigungsklage bis zur Beendigung des Prozesses zu verschieben h?tten. Wenn Ihr erstes Auftreten, wie ich nicht unterlassen will zu bemerken, den Schein der Schuldlosigkeit erwecken konnte, so belastete Sie hingegen Ihr Verhalten dem Untersuchungsrichter gegenüber in bedenklicher Weise. So haben Sie zuerst auf die Frage, wo Sie vom 1. bis 3. Oktober gewesen w?ren, die Antwort verweigert. Dann haben Sie erz?hlt, Sie w?ren in der Absicht, sich das Leben zu nehmen, fortgefahren, an einem beliebigen Haltepunkt ausgestiegen und dann aufs Geratewohl querfeldein gegangen, bis Sie in eine ganz einsame Gegend gekommen w?ren. An einem Flusse h?tten Sie lange gelegen und mit sich gek?mpft, bis Sie darüber eingeschlafen w?ren. Nach vielen Stunden festen Schlafes w?ren Sie ernüchtert aufgewacht, h?tten sich noch eine Weile herumgetrieben und w?ren dann heimgefahren. Schlie?lich tauchte die Geschichte von der geheimnisvollen Dame auf. Der Born der Phantasie sprudelt sehr ergiebig bei Ihnen.?

?Nicht so wie Sie meinen,? sagte Deruga. ?Ich wollte nur den Untersuchungsrichter ?rgern und kann wohl sagen, da? mir das gelungen ist. Er hat beinah Nervenkr?mpfe bekommen.?

Dr. Zeunemann lie? eine Pause verstreichen, bis das Gel?chter im Publikum verstummt war, und sagte dann: ?Es wundert mich, da? ein Mann in Ihrer Lage, in Ihrem Alter und von Ihrem Verstande sich so kindisch benehmen mag - oder so t?richt, denn vielleicht waren Ihre verschiedenen Angaben auch nur ein Verfahren, darauf zugeschnitten, unsicher zu machen und irrezuführen.?

?Sind Sie schon einmal von einem t?ppischen Untersuchungsrichter ausgefragt worden?? fragte Deruga. ?Nein, wahrscheinlich nicht. Also k?nnen Sie nicht wissen, wie Sie sich in solcher Lage benehmen würden. Allerdings vermutlich vernünftiger als ich. Sie haben eine beneidenswerte Konstitution. Sie sind so recht ein Musterbeispiel, wie der gesunde Mensch sein soll. Alle Erschütterungen durch h??liche Eindrücke, Fragen, Zweifel und Leidenschaften werden bei Ihnen durch eine tadellose Verdauung geregelt, so da? Sie sich immer im stabilen Gleichgewicht befinden; ich dagegen bin unendlich reizbar.?

Dr. Zeunemann hatte versucht, den Angeklagten zu unterbrechen, aber ohne genügenden Nachdruck. ?Sie haben wohl auch mehr Ursache unruhig zu sein als ich,? sagte er jetzt mit leichter Ironie. ?Vielleicht würden Sie sich wohler fühlen, wenn Sie es einmal mit vollkommener Offenheit versuchten, anstatt sich und uns durch Ihre Winkelzüge zu reizen.?

?Sie, Herr Pr?sident, will ich nicht ?rgern, darauf k?nnen Sie sich verlassen,? sagte Deruga mit einem freundlich beschwichtigenden Tone, wie man ihn etwa einem Kinde gegenüber anschl?gt.

* * *

?Warten Sie im Vorsaal des ersten Stockes auf mich,? flüsterte Justizrat Fein seinem Klienten zu, als gleich darauf die Sitzung aufgehoben wurde. Von dort aus gingen sie zusammen durch ein rückw?rtiges Portal in die Anlagen, die auf eine stille Stra?e ohne Gesch?ftsverkehr führten. Vor einem mit Gestr?uch bewachsenen Hange blieb der Justizrat stehen, stocherte mit der Spitze seines Regenschirmes in der alten, feucht-verklebten Bl?tterdecke und sagte: ?Da mu? es bald Schneegl?ckchen und Krokus geben; ich will ihnen den Weg ein wenig frei machen.?

?Kommen Sie, kommen Sie,? sagte Deruga, den Justizrat am Arm ziehend. ?Die finden ihren Weg ohne Sie. Sagen Sie, kann ich heute nachmittag w?hrend der Sitzung nicht lesen oder noch lieber schlafen? Das Zeug langweilt mich unbeschreiblich, Sie k?nnten mir ja einen Sto? geben, wenn ich mich bet?tigen mu?.?

?Machen Sie keine Dummheiten,? sagte der Justizrat; ?heute nachmittag wird wahrscheinlich der Hofrat von M?ulchen vernommen, der sehr schlecht für Sie aussagen wird. Sie müssen also aufpassen, ob Sie ihm nicht Ihrerseits etwas am Zeuge flicken k?nnen.?

?Am Zeuge flicken!? rief Deruga aus. ?Umbringen m?chte ich ihn. Ich hasse diesen Menschen, vielmehr diesen rosa Wachsgu? über einer Kloake.?

?H?ren Sie, Deruga,? sagte der Justizrat. ?Ich verstehe Sie ?fters nicht, doch das am wenigsten, wie Sie einem Menschen Geld schuldig bleiben mochten, den Sie ha?ten. Sie h?tten doch das Geld auch von anderer Seite haben k?nnen, zum Beispiel von dem guten Verzielli.?

?Wahrscheinlich h?tte es Ihr Ehrgefühl verletzt, einem verha?ten Menschen Geld zu schulden,? sagte Deruga. ?Sehen Sie, bei mir ist das anders. Mir machte es Vergnügen zu sehen, was für Angst er um seine Taler hatte, und wie er sich qu?lte, die Angst nicht merken zu lassen, sondern den Anschein zu wahren, als w?re es ihm ganz gleichgültig. Denn er will erstens für unerme?lich reich und zweitens für sehr weitherzig in Geldsachen gelten. H?tte ich Geld im überflu? gehabt, würde ich ihn wahrscheinlich doch nicht ausbezahlt haben, um ihn zappeln zu sehen.?

?Ich glaube, Sie k?nnen fürchterlich hassen,? sagte der Justizrat nachdenklich, indem er den Doktor nicht ohne Bewunderung von der Seite betrachtete.

Dieser lachte herzhaft und ausgiebig wie ein Kind. ?Das kann ich allerdings,? sagte er. ?Ich m?chte manchmal einem ein Messer im Herzen herumdrehen, nur weil mir seine Mundwinkel nicht gefallen. Ich will mich aber heute nachmittag Ihnen zuliebe zusammennehmen, so gut ich kann.?

?Ja, darum bitte ich,? sagte der Justizrat, ?ich fühle mich doch etwas verantwortlich für Sie.?

* * *

Hofrat von M?ulchen erschien in gew?hlter Kleidung, in einen angenehmen, mond?nen Duft getaucht, mit dem leichten und sicheren Gang dessen, den allgemeine Beliebtheit tr?gt, im Schwurgerichtssaale. Die Eidesformel, die der Pr?sident ihm vorsprach, wiederholte er mit liebenswürdiger Gef?lligkeit und einem leicht fragenden Ausklang, so, als wolle er sich bei jedem Satz vergewissern, ob es dem Vorsitzenden und dem lieben Gott so auch recht w?re.

?Der Angeklagte,? begann Dr. Zeunemann das Verh?r, als alle F?rmlichkeiten abgetan waren, ?ist Ihnen seit Mai 19.., also seit fünf Jahren, sechstausend Mark schuldig. Wollen Sie, bitte, erz?hlen, wie Sie den Angeklagten kennenlernten, und wie es kam, da? er das Geld von Ihnen borgte!?

?Beides ist schnell getan,? sagte der Hofrat. ?Ich lernte Deruga im ?rztlichen Verein kennen, au?erdem hat er mich gelegentlich einer kleinen Wucherung in der Nase behandelt. Kollegen empfahlen ihn mir, weil er eine besonders leichte Hand habe, was meine eigene Erfahrung best?tigt hat. Es handelte sich bei mir allerdings um einen sehr einfachen Fall, aber auch darin kann man ja seine F?higkeiten beweisen. Gewisse kleine Originalit?ten und Wunderlichkeiten hatte er an sich, zum Beispiel erinnere ich mich, da? er mich immer in der Erwartung hielt, als k?me etwas au?erordentlich Schmerzhaftes, was doch gar nicht der Fall war. Ich habe sagen h?ren, da? er nach Belieben, sagen wir nach Laune, die Patienten ganz schmerzlos oder sehr grob behandelte. Aber das geh?rt eigentlich nicht hierher, und so weit meine pers?nliche Erfahrung reicht, kann ich ihn als Arzt nur loben. Als ich nun gelegentlich eine Bemerkung über die sch?bige Ausstattung seines Wartezimmers machte, sagte er mir, er habe kein Geld, um sich so einzurichten, wie er m?chte, worauf ich ihm, einem augenblicklichen Gefühl folgend, so viel anbot, wie er brauchte. Ich bin vielleicht kein sehr besonnener Rechner,? schaltete der Hofrat mit einem L?cheln ein, ?aber in diesem Falle, einem Kollegen und tüchtigen Arzt gegenüber, glaubte ich gar nichts zu riskieren.?

?Hat der Angeklagte das Geld für eine neue Einrichtung verwendet?? fragte der Vorsitzende.

?Darüber kann ich aus eigener Anschauung nichts sagen,? antwortete der Hofrat. ?Es wurde mir sp?ter einmal zugetragen, geschwatzt wird ja viel, die Sessel seines Wartezimmers würden immer sch?biger; begreiflicherweise habe ich es aber vermieden, ihn aufzusuchen und mich darüber zu unterrichten.?

?Wollen Sie sich dazu ?u?ern?? wendete sich der Vorsitzende gegen Deruga. ?Haben Sie sich für das geliehene Geld Ihr Wartezimmer neu eingerichtet??

?Geh?rt das hierher?? fragte Deruga. ?Ich glaubte immer, man k?nne sein Geld verwenden, wie man wolle, einerlei, ob es geliehen oder gestohlen ist.?

?Sie verweigern also die Antwort??

?Soviel ich mich erinnere,? sagte Deruga mürrisch, ?habe ich Instrumente, moderne Apparate, einen Operationsstuhl und dergleichen dafür gekauft.?

?Sie haben,? setzte der Pr?sident die Zeugenvernehmung fort, ?im Laufe der n?chsten Jahre den Angeklagten niemals gemahnt??

?Bewahre,? erwiderte der Hofrat. ?Einen Kollegen! überhaupt würde ich das ohne genügende Gründe niemals tun. Ich hatte das Geld eigentlich schon verloren gegeben, denn das Gerede ging, als betriebe Deruga seine Praxis nur nachl?ssig und führe ein sehr ungeregeltes Leben. Ich habe übrigens, wie ich gleich vorausschicken will, der Wahrheit dieses Geredes nicht nachgeforscht und bitte, keine Schlüsse daraus zu ziehen.?

?So gehen wir ohne weiteres zu dem Anla? über,? sagte Dr. Zeunemann, ?der Sie bewog, das Geld zurückzufordern. Wollen Sie den Vorgang im Zusammenhang erz?hlen!?

?Im September vorigen Jahres,? berichtete der Hofrat, ?traf ich mit Deruga in dem schon erw?hnten ?rztlichen Verein zusammen, nachdem ich ihn fast ein Jahr lang nicht gesehen und das Geld sozusagen vergessen hatte. Er rief mir über den Tisch hinüber in ziemlich formloser Weise zu, er wolle eine Patientin, von der er glaube, da? sie ein Unterleibsleiden habe, zu mir schicken, ich solle sie untersuchen und n?tigenfalls behandeln, aber umsonst, zahlen k?nne sie nicht. Mehr über seine Art und Weise als über die Sache selbst verstimmt, erwiderte ich, wie ich gern glauben will, ein wenig kühl, ich sei mit Arbeit sehr überh?uft, die Kranke k?nne ja zu dem in Betracht kommenden Kassenarzt gehen. Darauf wurde Deruga kreidewei? im Gesicht und überh?ufte mich mit einem Schwall von Beleidigungen, wie, da? ich es nur auf Geldmacherei abgesehen h?tte, der Arzt für Kommerzienr?tinnen und fürstliche Kokotten w?re und dergleichen mehr, was ich nicht wiederholen will. Ich m?chte bemerken, da? ich glaube, wie ungerecht seine Beschuldigungen auch waren und wie unpassend auch die Form war, wie er sie erhob, er machte sie bona fide. Er hatte die Meinung, ich sei gemütlos und strebte nur nach klingendem Erfolg und ?u?erem Glanz, vielleicht weil ihm infolge einer gewissen volkstümlichen oder zigeunerhaften Veranlagung der Sinn für geregeltes bürgerliches Leben mit seinen traditionellen Begriffen von Anstand und Ehre überhaupt abgeht. In jenem Augenblick vermochte ich mich zu dieser objektiven Ansicht nicht zu erheben, sondern, ich gestehe es, ich fühlte mich verletzt und im Innersten emp?rt.?

?Beinah w?re der rosa Wachsgu? geschmolzen,? flüsterte Deruga dem Justizrat zu.

?Ohne mein entrüstetes Gefühl zu zügeln oder es nur zu wollen, antwortete ich heftig, er habe am wenigsten Ursache, mir derartige Vorwürfe zu machen, da ich ihm bereitwillig ausgeholfen und den Verlust nicht nachgetragen h?tte. Ich h?tte ihn damals für zahlungsf?hig gehalten, sagte er boshaft, sonst würde ich ihm nichts geborgt haben. Allerdings, sagte ich, h?tte ich einen Kollegen für so ehrenhaft gehalten, da? er seine Schulden bezahlte, und da er mich nun selbst herausfordere, solle er es auch tun. Der Streit wurde dann durch mehrere Kollegen, die sich ins Mittel legten, geschlichtet. Bevor wir uns trennten, sagte ich zu Deruga, er solle das, was ich vorhin in heftiger Aufwallung gesagt h?tte, nicht so auffassen, als wolle ich ihn dr?ngen. Erlauben Sie mir bitte, festzustellen, da? ich der ganzen Sache aus freien Stücken niemals in der ?ffentlichkeit Erw?hnung getan haben würde!?

?Darf ich bitten,? sagte Justizrat Fein, sich an den Zeugen wendend, ?Sie sind nachher mit keinem Wort und mit keiner Andeutung auf die Geldangelegenheit zurückgekommen??

?Nein, durchaus nicht,? antwortete der Hofrat. ?Es tat mir im Gegenteil leid, da? ich mir in der Erregung die Mahnung hatte entschlüpfen lassen.?

?Also?, sagte der Justizrat, ?war die Lage für Dr. Deruga nicht im mindesten ver?ndert, und es liegt kein Grund zu der Behauptung vor, er habe sich durchaus Geld verschaffen müssen, um die f?llige Schuld zu bezahlen.?

?Ich bitte sehr,? rief der Staatsanwalt, ?durch den Vorfall im ?rztlichen Verein war das Schuldverh?ltnis einer ganzen Reihe von Kollegen bekannt geworden; das ist denn doch eine erhebliche Ver?nderung der Lage. So viel Ehrgefühl dürfen wir doch bei einem jeden gebildeten Manne voraussetzen, da? ihm das nicht gleichgültig war.?

?Nehmen wir, bitte, Dr. Deruga wie er ist, und nicht, wie er nach der Meinung anderer sein sollte. Da es ihm nichts ausmachte, dem Hofrat von M?ulchen Geld schuldig zu bleiben, für den er augenscheinlich keine besondere Vorliebe hatte, lag ihm wahrscheinlich sehr wenig daran, da? ein paar andere Kollegen, mit denen er, wie es scheint, ganz gut stand, davon wu?ten. Jedenfalls, wenn er früher so dickfellig in diesem Punkt war, wird er nicht pl?tzlich so empfindlich geworden sein, da? er ein Verbrechen beging, um sich aus der Klemme zu ziehen.?

Die gem?chliche Grandezza, mit der der Justizrat dastand, die Wucht seiner massigen Gestalt und seines gro?geformten, ruhigen Gesichtes überzeugten noch wirksamer als seine Worte und brachten seinen zappeligen Gegner au?er Fassung.

?Ja, wenn der Mensch immer so folgerichtig w?re!? sagte er heftig. ?Dafür, da? M?nner lieber Verbrechen begehen, als einen Fleck auf ihrer sogenannten bürgerlichen Ehre dulden, finden sich viele Beispiele.?

Dr. Zeunemann hob Ruhe gebietend seine Hand.

?Eine verbrecherische Handlung wird dem Angeklagten zun?chst noch gar nicht zugemutet,? sagte er. ?Wenn er seine geschiedene Frau um Geld anging, so war das h?chstens taktlos, und es ist um so weniger auffallend, als wir aus vielen Zeugnissen wissen, da? er diese Hilfsquelle ?fters in Betracht zog. Halten Sie,? wendete er sich an den Hofrat, ?die Schuld für ein Motiv, das stark genug gewesen w?re, den Angeklagten zu veranlassen, sich auf irgendeine ungew?hnliche oder bedenkliche, etwa sogar verbrecherische Weise in den Besitz von Geld zu setzen??

?Ich mu? sehr bitten,? wehrte der Hofrat ab, ?mir die Antwort zu erlassen. Ich schrecke um so mehr davor zurück, ein Urteil darüber zu ?u?ern, als ich nicht in der Lage war, mir eines zu bilden. Ich bin mit der Psyche Derugas nicht vertraut, k?nnte mich nur in Phantasien ergehen, aber selbstverst?ndlich bin ich eher geneigt, Gutes als Schlechtes von einem Kollegen zu denken.?

?Sie waren,? fuhr der Vorsitzende fort, ?derjenige Kollege, dem der Angeklagte am 1. Oktober zwischen sechs und sieben Uhr in der N?he des Bahnhofs begegnete, und der ihn fragte, ob er in den ?rztlichen Verein wolle??

?Jawohl,? sagte der Hofrat. ?Ich stellte die Frage, weil ich mich nach dem, was kürzlich vorgefallen war, kollegial zu ihm verhalten wollte. Seine Antwort, er wolle verreisen, erregte mir keinerlei Zweifel, da wir ja in der N?he des Bahnhofs waren und Deruga ein Paket trug. Dasselbe fiel mir auf, weil es gr??er war, als Herren unserer Gesellschaftskreise solche zu tragen pflegen.?

Der Vorsitzende wandte sich an Deruga mit der Frage, ob er zugebe, ein Paket getragen zu haben, und was darin gewesen sei.

?Ich erlaubte mir allerdings,? sagte Deruga, ?als ein armer Teufel, der sich nicht erdreistet, zu den Gesellschaftskreisen des Herrn von M?ulchen geh?ren zu wollen, ein Paket zu tragen. Darin wird W?sche und dergleichen gewesen sein, was man für die Nacht braucht.?

Der Staatsanwalt schnellte von seinem Sitz auf und bat, da? festgestellt werde, ob Deruga, als er am 3. Oktober in seine Wohnung zurückkehrte, ein Paket bei sich gehabt habe.

?Die Haush?lterin wird gleich vernommen werden,? sagte der Vorsitzende. ?Der Angeklagte antwortete Ihnen, Herr Hofrat, er wolle verreisen, und Sie begleiteten ihn bis zum Bahnhof. K?nnen Sie sonst etwas Sachdienliches mitteilen??

?Nein, durchaus nicht,? beteuerte der Hofrat. ?Gerüchte und Schw?tzereien zu wiederholen werden Sie mir erlassen, da dergleichen ja mehr oder weniger über jeden Menschen in Umlauf ist und in ernsten F?llen nicht in Betracht gezogen werden sollte.?

?Vielleicht k?nnten Sie doch sagen,? fragte der Vorsitzende, ?was für einen Ruf Dr. Deruga im allgemeinen unter seinen Kollegen geno???

?Ich glaube nicht, da? meine diesbezüglichen Mitteilungen einen namhaften Wert für Sie h?tten,? entschuldigte sich der Hofrat. ?Aus dem, was ich erz?hlt habe, l??t sich ja schon mancherlei schlie?en. Den sicheren Boden der Tatsachen m?chte ich nicht verlassen.?

* * *

Weinh?ndler Verzielli, der n?chste Zeuge, war ein untersetzter, dunkelfarbiger Mann, der den Eid in strammer Haltung, die Augen fest auf den Pr?sidenten gerichtet, die linke Hand auf das Herz gelegt, mit lauter Stimme und leidenschaftlichem Ausdruck leistete.

?Sie sind mit dem Angeklagten bekannt, aber nicht verwandt?? fragte Dr. Zeunemann.

?Befreundet, sehr befreundet,? sagte Verzielli eifrig.

?Aber nicht verwandt?? wiederholte Dr. Zeunemann.

?Leider nicht,? sagte Verzielli, ?aber sehr befreundet. Ich liebe und bewundere ihn.?

?Sie fühlten sich ihm zu Dank verpflichtet,? sagte der Vorsitzende freundlich, ?weil er durch einen guten Rat und auch durch eine Geldsumme, die er Ihnen vorscho?, Ihr Glück begründet hatte??

?Ach, Rat und Kapital, das ist nicht die Hauptsache,? rief Verzielli aus. ?Er hat mir den Glauben an die Menschheit wiedergegeben. Er ist edel und hilfsbereit.?

?Sie konnten ihm das Geliehene bald zurückgeben,? fuhr der Vorsitzende fort, ?und haben ihm seitdem Ihrerseits zuweilen Geld geborgt??

?Das ist ja gar nicht der Rede wert,? sagte Verzielli, Kopf und Hand schüttelnd, ?wo ich ihm meine ganze Existenz verdanke. übrigens hat er mich nie um Geld gebeten, ich habe es ihm aufgedr?ngt. Er verstand ja nicht mit Geld umzugehen, er war zu gut und zu edel dazu.?

?Hat er Ihnen jemals Geld zurückgezahlt??

?O ja,? rief Verzielli stolz, ?auch in bezug auf das Rückst?ndige fragte er mich ?fters, ob ich es brauche. Aber wozu h?tte ich es brauchen sollen? Es war ja ebenso sicher bei ihm wie auf der Bank. Ich sagte ihm immer, es sei noch Zeit, wenn er es einmal meinen Kindern wiederg?be. Meine Frau war auch der Meinung, man dürfe ihn nicht dr?ngen.?

?Hat der Angeklagte Sie zuweilen mit Hinblick auf etwaige Schenkungen oder eine etwaige Erbschaft von seiten seiner geschiedenen Frau vertr?stet??

?Zu vertr?sten brauchte er mich nicht,? sagte Verzielli ein wenig gereizt. ?Aber natürlich hat er zuweilen von seiner geschiedenen Frau und seinem verstorbenen Kinde gesprochen. Er hat das arme Kind sehr geliebt. Meine Frau und ich haben oft geweint, wenn er davon sprach.?

Er zog bei diesen Worten ein gro?es, buntes Taschentuch hervor und fuhr sich damit über Stirn und Augen, sei es um sich Tr?nen oder Schwei? damit zu trocknen.

?Ich bitte Sie,? sagte Dr. Zeunemann freundlich, ?genau auf meine Fragen zu achten und sie kurz und deutlich zu beantworten. Hat der Angeklagte Ihnen zuweilen von einer Aussicht gesprochen, Geld von seiner geschiedenen Frau zu erhalten, sei es bei ihren Lebzeiten oder nach ihrem Tode??

?Ich glaube,? sagte Verzielli, sein Taschentuch quetschend, ?er sagte gelegentlich einmal, seine geschiedene Frau sei reich, und er sei überzeugt, sie würde ihm geben, was er brauchte, wenn er sie darum b?te.?

?Erinnern Sie sich, wann er Ihnen das gesagt hat??

?Ich glaube,? sagte Verzielli, ?da? es in der letzten Zeit nicht gewesen ist.?

?Wir kommen jetzt,? sagte der Vorsitzende, nach einem leichten R?uspern die Stimme hebend, ?zu einem sehr wichtigen Punkt, und ich fordere Sie auf, Herr Verzielli, Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Ged?chtnis energisch zusammenzufassen. Denken Sie vor allen Dingen nicht daran, welche Folgen Ihre Aussagen für den Angeklagten haben k?nnten, sondern nur daran, da? Sie einen Eid geschworen haben, die Wahrheit zu sagen!?

Verzielli richtete sich stramm auf, blickte dem Vorsitzenden fest ins Auge und umfa?te krampfhaft sein Taschentuch.

?Erz?hlen Sie uns genau mit allen Einzelheiten, wie es sich begab, da? Sie von dem Gerücht, Dr. Deruga habe seine Frau ermordet, erfuhren, und da? Sie ihn davon in Kenntnis setzten!?

Verzielli schwieg und starrte angelegentlich in einen Winkel, augenscheinlich bemüht, seine Gedanken zu sammeln.

?Ich will Ihnen zu Hilfe kommen,? sagte Dr. Zeunemann nachsichtig. ?Am Abend des 25. November kam Cavaliere Faramengo, der italienische Konsul, in Ihr Restaurant, um ein Glas Wein zu trinken, wie er zuweilen tat. Er fragte Sie nach dem Angeklagten aus, und Sie erfuhren von ihm, da? von München aus Erkundigungen über ihn eingezogen w?ren, und da? er im Verdacht stehe, seine geschiedene Frau, die Anfang Oktober gestorben war und ihn zum Erben ihres Verm?gens eingesetzt hatte, ermordet zu haben. Au?er sich vor Entrüstung liefen Sie sofort zu dem Angeklagten, erz?hlten ihm alles und sagten, wenn Sie nur wü?ten, wer der Verleumder w?re, Sie würden ihn t?ten. Der Angeklagte sagte lachend: 'Dummkopf, ich habe es ja getan.' Das ist, was der Untersuchungsrichter nicht ohne Mühe aus Ihnen herausgebracht hat. Best?tigen Sie es jetzt vor dem versammelten Gericht und vor den Geschworenen??

?Es ist wahr, da? Dr. Deruga sagte: 'Dummkopf, ich habe es ja getan,' aber er hatte nur insofern recht, als er mich einen Dummkopf nannte, denn er meinte ...?

?Bleiben Sie bei der Sache!? sagte Dr. Zeunemann. ?Was antworteten Sie darauf??

?Ich sagte, das w?re nicht m?glich, und davon war ich auch überzeugt, da? es unm?glich w?re; aber in dem Zustand von Aufgeregtheit, in dem ich mich befand, bat ich ihn, augenblicklich nach Amerika zu fliehen, und bot ihm mein ganzes Verm?gen an, damit er sich dort weiter helfen k?nnte.?

?Guter Mann,? sagte pl?tzlich Deruga laut.

Verzielli, der es bisher vermieden hatte, nach der Anklagebank hinüberzusehen, wandte jetzt den Kopf herum und warf Deruga einen verzweifelten Blick zu.

Auch Dr. Zeunemann sah ihn an. ?Wie erkl?ren Sie es,? sagte er, ?da? Sie im ersten Augenblick der überraschung Verzielli gegenüber die Tat zugaben??

?Ich wollte sehen, was für ein Gesicht er machte,? sagte Deruga leichthin, ?das ist alles.?

?Ja, natürlich,? fiel Verzielli rasch ein. ?So war er. Das ist ganz er. O Gott, er hatte recht, mich einen Dummkopf zu nennen. Ja, ein Esel, ein verwünschter T?lpel war ich, es nicht sofort klar zu durchschauen.?

?Bei der Sache bleiben,? unterbrach Dr. Zeunemann. ?Die Stimmung des Angeklagten schlug unvermittelt um, er geriet in Wut und wollte sofort zum italienischen Konsul laufen, um zu erfahren, wer ihn verleumdet h?tte. 'Sie haben es also nicht getan,' riefen Sie und beschworen den Angeklagten, keinen übereilten Schritt zu tun und mit dem Besuch beim Konsul bis zum folgenden Morgen zu warten. Fürchteten Sie vielleicht, er würde sich in seiner Wut am Konsul vergreifen??

?Gott bewahre!? rief Verzielli entrüstet. ?Der Konsul sollte nur nicht erfahren, da? ich Deruga alles ausgeplaudert hatte. Auch fürchtete ich, da? Dr. Deruga in seinem gerechten Zorne sich allzu heftig ?u?ern und dadurch den Konsul gegen sich einnehmen würde. Kurz, ich war ein Dummkopf und war ma?los aufgeregt. Ich wu?te nicht, was ich sagte und was ich tat.?

Der Staatsanwalt war im Laufe des Verh?rs aufgestanden und begleitete die Antworten des Italieners mit unwillkürlichen Geb?rden und hier und da mit einem h?hnischen Lachen oder entrüsteten Ausruf.

?In Ihrer Aufgeregtheit,? sagte er jetzt, sich vorbeugend, ?hatten Sie jedenfalls den Eindruck, da? der Angeklagte im Ernst sprach, als er sagte: 'Ich habe es ja getan.' Sonst h?tten Sie hernach nicht ausgerufen: 'Sie haben es also nicht getan!'?

Verzielli warf einen zornigen und ver?chtlichen Blick auf den Sprecher und sagte entschlossen: ?Was ich auch gesagt und gedacht habe, ich war im Unrecht, und der Doktor war im Recht, und wenn er seine Frau get?tet h?tte, was er aber nicht getan hat, so h?tte er auch recht gehabt.?

Eine Bewegung, mit Gel?chter vermischt, ging durch den Saal.

?Eigentümliche Auffassung,? sagte der Staatsanwalt, beide Arme in die Seite stemmend.

?Ich denke,? nahm der Vorsitzende das Wort, als es wieder still geworden war, ?wir lassen die Auffassungen beiseite und halten uns an Tatsachen. Wünscht einer der Herren Kollegen oder der Herren Geschworenen noch eine Frage an den Zeugen zu stellen? Nein? So k?nnen wir zu Fr?ulein Klinkhart, der Haush?lterin oder Empfangsdame des Angeklagten, übergehen.?

* * *

Ein Fr?ulein von etwa fünfunddrei?ig Jahren trat vor, einfach, aber gut gekleidet, schwarzhaarig, mit gerader Nase und ruhigen, braunen Augen. Sie kam mit raschen, sicheren Schritten und sah sich um, als suche sie, wo es etwas für sie zu tun g?be; als ihr Blick dabei auf Deruga fiel, nickte sie ihm freundlich und ermunternd zu. Den Eid leistete sie frisch und freudig; sie schien zu denken, nun habe sie den Faden in der Hand und werde den Wust schon entwirren.

Das Verh?r begann folgenderma?en:

?Wie lange sind Sie in Stellung bei dem Angeklagten??

?Zehn Jahre.? Ich kenne ihn also etwas besser als Sie alle, meine Herren, lag in diesen Worten.

?Worin besteht Ihre Besch?ftigung??

?Ich führe das Haus; koche das Essen, mache die Zimmer, empfange die Patienten, schreibe die Rechnungen und so weiter.?

?Das ist sehr viel. Standen oder stehen Sie in freundschaftlichen, ich wollte sagen, in mehr als freundschaftlichen Beziehungen zu dem Angeklagten?? Sie runzelte die Brauen und schien eine rasche Antwort geben zu wollen, besann sich aber und sagte kurz: ?Nein.?

?Wieviel Lohn erhielten Sie??

?Achtzig Kronen.?

?Hatten Sie Nebeneinkünfte??

?Nein.?

?Die Stelle mu? offenbar ideelle Annehmlichkeiten haben. Sie waren vermutlich sehr selbst?ndig? Der Doktor behandelte Sie gut??

?Er mich und ich ihn. Wir passen gut zusammen. übrigens ist es leicht, mit Dr. Deruga gut auszukommen, wer es nicht tut, tr?gt selbst die Schuld.?

?Gut. Erinnern Sie sich an den 1. Oktober des vorigen Jahres? Der Angeklagte verlie? die Wohnung etwa um sechs Uhr. Sagte er Ihnen, wohin er ginge, und wann er wiederkomme??

?Dr. Deruga sagte, er k?me vielleicht nachts nicht nach Hause und wisse auch noch nicht, ob er am folgenden Tage zur Sprechstunde wieder da sein würde. Wenn Patienten k?men, sollte ich sie vertr?sten.?

?Glaubten Sie, da? er verreise??

?Ich glaubte gar nichts - weil es mich nichts anging. Ich pflegte nie zu fragen, wohin er ginge, nur neckte ich ihn zuweilen, weil ich wu?te, da? ihm die Frauenzimmer nachliefen. Vielleicht habe ich das auch an jenem Abend getan.?

?Was hatte der Angeklagte bei sich, als er fortging??

?Ein Paket.?

?Wissen Sie, was der Inhalt des Paketes war??

?Nein.?

?Sie wissen es nicht, aber Sie ahnten es doch vielleicht. Haben Sie ihn etwas einwickeln sehen? Hat er in Schr?nken oder Kommoden gekramt??

?Ja, ich sah, da? er etwas suchte, und fragte ihn, was es sei. Da sagte er ?rgerlich: 'Wo, zum Teufel, haben Sie den alten Faschingstr?del versteckt?' Ich sagte, es sei alles in der Truhe auf dem Vorplatz, was überhaupt noch vorhanden sei. Er hatte n?mlich verschiedenes verliehen oder verschenkt.?

?Was verstehen Sie unter altem Faschingstr?del??

?Kostüme, die er früher beim Fasching getragen hatte. In den letzten Jahren hatte er nichts mehr mitgemacht.?

?Was für Kostüme waren das??

?O, das kann ich so genau nicht sagen, was sie bedeuteten. Bauernkleider und ein Bajazzo und ein M?nch, glaub' ich. Ich kenne mich nicht aus damit.?

?Vermutlich boten Sie ihm Ihre Hilfe an??

?Ja, aber er sagte: 'Gehen Sie zum Teufel!' Das war nicht b?se gemeint, es war so eine Redensart von ihm. Mir war es ganz recht, denn es war nach Tisch und ich hatte in der Küche zu tun.?

Inzwischen war der Staatsanwalt aufgestanden, gestikulierte mit seinen langen Armen und machte Grimassen. ?Mein liebes Fr?ulein,? sagte er, ?hatte der Angeklagte keine Reisetasche??

?Ja, wenn er verreiste, nahm er eine Reisetasche,? sagte Fr?ulein Klinkhart.

?Nun, mein liebes Fr?ulein,? fuhr der Staatsanwalt mit sü?licher Liebenswürdigkeit fort, ?sollten Sie als Dame und als Haush?lterin, teils aus Neugier und teils aus Ordnungsliebe, nachdem Ihr Brotherr fort war, nicht nachgesehen haben, was er mitgenommen hatte? Wenn ich mich in Ihre Lage versetze, so scheint mir, Sie mu?ten sich Gewi?heit zu schaffen versuchen, wie lange Ihr Brotherr fortbleiben würde. Aus dem, was er mitgenommen hatte, lie? sich doch manches schlie?en.?

Fr?ulein Klinkhart faltete finster die Brauen und warf einen Blick unverhohlener Abneigung auf den Staatsanwalt. ?Ich sah,? antwortete sie, ?da? in der Truhe alles durcheinandergeworfen war, und machte wieder Ordnung. Ob etwas fehlte, wei? ich nicht, ich habe nicht darauf geachtet. Ein Nachthemd hatte er, wie mir schien, nicht mitgenommen.?

?Sehen Sie, sehen Sie,? rief der Staatsanwalt triumphierend und mit dem langen Zeigefinger auf sie deutend, ?dahin wollte ich Sie bringen! Also ein Nachthemd hatte er nicht mitgenommen??

?Nun, und?? sagte Fr?ulein Klinkhart finster, ?wenn er doch gar nicht verreiste!?

?Sehr wohl, mein liebes Fr?ulein,? sagte der Staatsanwalt mit entzücktem L?cheln, ?wenn nun aber kein Nachtkleid in dem Paket war, was war Ihrer Meinung nach dann darin?? Fr?ulein Klinkhart zuckte ?rgerlich und ungeduldig die Achseln und sagte: ?Wahrscheinlich war irgendein Kostümstück zum Verkleiden darin, das er jemandem leihen wollte.?

?Wollen Sie uns das R?tsel l?sen?? wandte sich der Vorsitzende an Deruga.

?Es war ein Kimono darin,? sagte Deruga, ?den mir einmal ein Patient aus China mitgebracht hatte, und den ich der Dame, die ich besuchte, leihen wollte.?

?Sie sagten ja vorhin, es w?re W?sche darin gewesen,? sagte Dr. Zeunemann, den Arm auf die Lehne seines Sessels stemmend und sich nach dem Angeklagten herumwendend.

?Ja, k?nnen Sie sich nicht denken, da? ich das Breittreten der albernen Kleinigkeiten satt habe?? erwiderte dieser mit einem so wütenden Ausdruck, da? der Fragende unwillkürlich zurückfuhr. ?Ich habe gesagt, was mir gerade einfiel, und n?chstens werde ich überhaupt nichts mehr sagen. Es war ein Kimono, ein Nachthemd, eine Zahnbürste, ein Revolver und eine Flasche Gift darin. Das ganze Paket w?chst mir zum Halse heraus.?

Dr. Zeunemann wartete eine Weile und sagte dann ruhig: ?Ich frage Sie nicht aus, weil es mir Vergnügen macht, sondern weil es meine Pflicht ist. Ich hoffe, Sie sehen das ein und entscheiden sich, was Sie endgültig als den Inhalt des Pakets angeben wollen.?

Derugas Züge gl?tteten sich. ?Wahrhaftig,? sagte er mit einem liebenswürdigen L?cheln, ?ich bin ein grober Kerl, entschuldigen Sie mich. Es war also ein Kimono in dem verwünschten Paket.?

?Den Sie der bewu?ten Dame leihen wollten,? fügte Dr. Zeunemann hinzu.

?Der Fasching beginnt meines Wissens erst im Januar,? bemerkte der Staatsanwalt.

Deruga lachte. ?Die Dame machte entweder ihre Vorbereitungen sehr früh oder sie brauchte ihn für einen anderen Anla?. Ich werde sie gelegentlich fragen und es Ihnen dann mitteilen.?

Der Staatsanwalt bebte vor ?rger, um so mehr als er auf dem Gesicht des Justizrats und auf dem des Vorsitzenden ein belustigtes L?cheln sah, das der letztere aber schnell unterdrückte. ?Gehen wir nun,? sagte er, ?zu der Rückkehr des Angeklagten am 3. Oktober über. Was ging dabei vor? Besinnen Sie sich noch, Fr?ulein Klinkhart, was Dr. Deruga sagte??

?O ja,? antwortete sie. ?Ich sagte: 'Gut, da? Sie kommen, Doktor. Es warten einige Patienten über zwei Stunden auf Sie.' Der Doktor sagte: 'Desto schlimmer für sie, ich bin sehr müde und will mich sofort zu Bett legen.' Ich fragte, ob er nicht wenigstens einen Augenblick selbst mit ihnen sprechen und sie wieder bestellen wollte. Da machte er eine abwehrende Bewegung mit der Hand und sagte: 'Ich kann nicht,' und da wu?te ich, da? ich nicht weiter in ihn dringen dürfte.?

?Fiel Ihnen denn dieses Benehmen nicht auf?? fragte der Vorsitzende.

?Durchaus nicht,? sagte Fr?ulein Klinkhart. ?Er leidet an Migr?ne, und wenn ein Anfall kommt, hat er solche Kopfschmerzen, da? ihm alles einerlei ist. Er legt sich dann hin, und ich mu? ihn in Ruhe lassen. Gew?hnlich ist es am anderen Morgen vorbei. Er sah auch so fahl aus, wie er immer tut, wenn er die Migr?ne hat.?

?Er ging also in sein Schlafzimmer, und Sie haben ihn bis zum folgenden Morgen nicht gesehen? Hatte er das Paket bei sich, das er mitgenommen hatte??

?Darauf habe ich nicht geachtet.?

?Ich erinnere Sie, Fr?ulein Klinkhart,? sagte Dr. Zeunemann streng, ?da? Sie unter Eid aussagen. Es ist glaublich, da? Sie im ersten Augenblick nicht an das Paket dachten; aber da Sie am anderen Tage das Zimmer aufr?umten, wird es Ihnen doch eingefallen sein??

?Das denken Sie, Herr Pr?sident,? sagte Fr?ulein Klinkhart mit einem lebhafteren Feuer ihrer stillen, braunen Augen, ?weil Sie einen Argwohn haben und sich wom?glich einbilden, es w?re irgendein Mordinstrument in dem Paket gewesen. Ich war aber unbefangen, und deshalb fand ich das Paket gar nicht wichtig, was es auch gewi? nicht war. Aber wenn ein Kostüm darin gewesen war, das er jemandem geliehen hatte, so konnte er es ja auch gar nicht wieder mitbringen.?

?Ja, wenn,? sagte Dr. Zeunemann, ?das stimmt. Besa? denn der Angeklagte einen chinesischen Kimono??

?Chinesisches Zeug habe ich einmal gesehen,? sagte Fr?ulein Klinkhart. ?Nebenbei kenne ich aber nicht alles, was der Doktor besitzt. Ich bin kein Spion.?

Dr. Zeunemann bl?tterte eine Weile in den Akten und fragte dann: ?Hat der Angeklagte Ihnen sofort Mitteilung davon gemacht, als er die Nachricht von der Erbschaft bekam, die ihm zugefallen war??

?Ja, er rief mich herein,? erz?hlte Fr?ulein Klinkhart, ?denn ich war gerade in der Küche, und er war sehr erregt und machte allerlei Zukunftspl?ne und fragte mich, was ich mir wünschte, aber etwas Sch?nes und Kostbares sollte es sein. Ich sagte, ich h?tte nur einen einzigen Wunsch, n?mlich ein paar Brillantohrringe. Die versprach er mir, aber er neckte mich damit, wie es so seine Art war. Wir haben sehr gelacht.?

?Er freute sich also sehr??

?Gewi?,? sagte Fr?ulein Klinkhart ruhig, ?er war geradezu toll vor Freude. Er litt immer unter der Beschr?nktheit seiner Mittel und liebte es, sich auszumalen, da? er reich w?re. Er war wie ein Kind, wenn er in solchen Vorstellungen schwelgte. Aber oft sagte er schon eine Stunde nachher, da? er den ganzen Bettel verachte.?

Zum Beschlu? wurden noch ein Schneider und ein Friseur vernommen, welchen Deruga gr??ere Betr?ge schuldig war. Die Eleganz des Schneiders war nicht einschmeichelnd wie die des Hofrats von M?ulchen, sondern vernichtend, und zwar zermalmte sie weniger die ganz armen Teufel, für welche sie überhaupt nicht in Betracht kam, als diejenigen, die zwar Geld hatten, aber nicht genug, oder nicht Geschmack und Erziehung genug, um sich ihm oder einem ihm ebenbürtigen Kleiderkünstler anzuvertrauen. Er sagte aus, er habe sehr bald Mi?trauen gesch?pft, weil er Dr. Deruga nicht für einen wahrhaft feinen Gentleman h?tte halten k?nnen. Er, der Schneider, habe nur hochfeine Kundschaft und sei deshalb in diesem Punkte nicht leicht zu t?uschen. Deruga sei viel zu kordial im Verkehr mit seinen Angestellten gewesen und habe zuweilen mit ihm, dem Schneider, Sp??e gemacht, die er in Gegenwart seiner Angestellten, des Respekts wegen, nicht gerne angeh?rt h?tte. Seine diesbezüglichen Andeutungen habe Deruga nicht verstanden. Er habe Deruga daher auch halbj?hrliche Rechnungen geschickt, w?hrend er den feinen Kunden nur j?hrliche schickte. Deruga sei ihm seit zweieinhalb Jahren eintausend Mark schuldig, das sei nicht viel, und er würde einem feinen Kunden gegenüber kein Aufheben davon machen; es k?nne ihm aber natürlich nicht gleichgültig sein, wenn es sich um einen Mann mit zweifelhaftem Charakter handle.

Auf die Frage, ob Deruga ihm gegenüber von einer zu erwartenden Erbschaft oder sonst von Geldquellen gesprochen h?tte, die ihm zur Verfügung st?nden, sagte der Schneider mit vornehmer Zurückhaltung, Deruga habe sehr viel geschwatzt, es k?nnten auch derartige Worte gefallen sein; er befolge aber seit Jahren den Grundsatz, die privaten Mitteilungen, die seine Kunden ihm machten, weder zu wiederholen noch zu behalten, und sei deshalb gar nicht mehr imstande, sie sich zu merken. Vollends w?ren ihm die Redereien Derugas viel zu belanglos vorgekommen, als da? er sein Ged?chtnis damit belastet h?tte.

Der Friseur betonte mit Feuer, da? Deruga ohne Zweifel die ihm ausstehende Schuld bezahlt haben würde, wenn er ihn jemals gemahnt h?tte. Deruga sei ihm aber viel zu teuer gewesen, ein Mann nach seinem Herzen, genial und edel, den zu bedienen er sich immer zur Ehre angerechnet habe. Sein Auge dringe den Menschen bis ins Innerste, er lasse sich nie durch Scheingr??en blenden, und das Geringste mi?achte er nicht. ?Und wenn er mir nie einen Pfennig bezahlte, meine Herren,? rief der Friseur mit Schwung aus, ?ich würde ihm stets meine ganze Kraft weihen und nie aufh?ren zu sagen, das ist ein gro?er Mann.?

?War Deruga bei Ihnen,? fragte der Vorsitzende, ?nachdem er von der Erbschaft in Kenntnis gesetzt worden war??

?Ich darf mir schmeicheln, der erste gewesen zu sein,? sagte der Friseur, ?dem der Herr Doktor sein Herz über dieses Ereignis ausschüttete. 'Nun werde ich dich k?niglich belohnen,' sagte er zu mir, 'denn du verdienst es sowohl wegen deiner Kunst wie wegen deiner anst?ndigen Gesinnung.' Herr Doktor pflegte mir n?mlich zuweilen, wenn er stark in Stimmung war, das trauliche Du zu geben. Ich erwiderte, mit der Bezahlung solle er es halten, wie er wolle, nur seine Kundschaft solle er mir nicht entziehen. 'Da kennst du Deruga schlecht!' rief er aus, 'meinst du, ich untersch?tze dein Kabinett, weil es in einem Seiteng??chen liegt und keine goldenen Spiegel und von denkenden Künstlern entworfene Stühle darin sind? Und wenn ich Kaiser von China würde, auf diesem sch?bigen, aber bequemen Sessel, von deiner Meisterhand würde ich mich rasieren lassen. Ich hasse und verabscheue das Geld, und wenn ich es nicht brauchte, um das Ungeziefer, Menschen genannt, mir vom Leibe zu halten, würfe ich die ganze Erbschaft in den n?chsten Stra?engraben.'?

Der Staatsanwalt schüttelte mit verzweifeltem Hohnlachen den Kopf. Quousque tandem? stand auf seinem Gesicht geschrieben; schreit sein L?stern noch nicht genug zum Himmel?

?Kam der Angeklagte t?glich zu Ihnen?? fragte der Vorsitzende.

?Ich darf wohl sagen, im allgemeinen t?glich,? erwiderte der Friseur. ?Sowohl ich selbst wie meine Kunden vermi?ten ihn aufs schmerzlichste, wenn er einmal ausblieb.?

?Erinnern Sie sich, ob er am 2. und 3. Oktober des vorigen Jahres ausblieb??

?Ich erinnere mich,? sagte der Friseur, ?da? ich ihn im Sp?tsommer oder Herbst einmal ein paar Tage lang nicht sah. Das Datum habe ich mir aber nicht gemerkt.?

?Sie erinnern sich auch nicht, was er, als er wiederkam, als Grund seines Ausbleibens angab? Wie Sie mit ihm standen,? setzte Dr. Zeunemann in etwas strengerem Ton hinzu, ?ist anzunehmen, da? Sie ihn danach fragten??

?Ich erinnere mich allerdings,? erwiderte der Gefragte, ?da? ich es unterlie? ihn zu fragen, weil er schweigsam und in sich gekehrt war. Ich bin nach meinem Beruf nur Friseur,? setzte er mit Hoheit hinzu, ?aber mir ist so viel Takt angeboren, da? das Vertrauen eines edlen Menschen mich nicht zudringlich macht, und da? ich fühle, wann Heiterkeit und wann Ernst am Platze ist. Gerade den Herrn Doktor habe ich nie ausgehorcht und zum Reden anzustacheln versucht, wenn er in sich versunken oder umw?lkten Mutes zu sein schien.?

?Was für Vermutungen,? fragte der Vorsitzende weiter, ?hatten Sie denn bei sich über das Ausbleiben des Angeklagten und über seine ungew?hnlich ernste Stimmung??

?Gar keine,? sagte der Friseur, milde Mi?billigung und Belehrung im Ton, ?ich erlaubte mir gar keine.?

Dr. Zeunemann gab es auf und wollte den Zeugen eben entlassen, als der Staatsanwalt noch eine Frage an ihn richten zu wollen erkl?rte.

?Hat der Angeklagte im Sp?tsommer des vorigen Jahres oder noch früher eine Perücke oder einen falschen Bart oder beides bei Ihnen gekauft oder geliehen??

?Ich bedaure,? sagte der Friseur mit h?flich schadenfrohem L?cheln, ?aber dergleichen Artikel führe ich nicht. In einem kleinen, bescheidenen, abgelegenen Gesch?ft, wie das meinige ist, lohnt sich das nicht aus.?

Es war schon eine vorgerückte Abendstunde, und der Vorsitzende hob die Sitzung auf. Als der Justizrat die Hand auf die Schulter Derugas legte, der mit aufgestütztem Kopfe dasa?, fuhr dieser herum und sah den anderen mit blinzelnden Augen unsicher an.

?Ich glaube, wei? Gott, Sie haben geschlafen?? fragte der Justizrat zwischen Staunen und Entrüstung. ?Ich glaube auch,? sagte Deruga; ?das letzte, was ich sah, war der Kerl, der Schneider. Der ekelte und langweilte mich so, da? ich die Augen zumachte, und da war ich sofort weg. Ich habe mir das in meiner Universit?tszeit angew?hnt, wo ich oft sehr müde war. Ich konnte stundenlang w?hrend der Vorlesungen schlafen, ohne da? es jemand merkte, ausgenommen mein Freund Carlo Gabussi, der neben mir sa?. O traurige Jugend und sü?e Erinnerung!?

* * *

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